"Erinnerungen" übernommen oder selbst erinnert?
Guten Tag!
Ich bin 50, bin seit ich Tennager war durch Fachärzte mit der Diagnose "wiederkehrende schwere Depressionen", bei Psychotherapeuten in Therapie, aber mit Unterbrechungen. Bei den Therapeuten wurde mir dann irgendwann erklärt, daß ich "mehrfach traumatisiert" und die meisten meiner Probleme daher kommen und deswegen so schwierig zu therapieren sind.
In der Zeit als ich junge Erwachsene war hat sich immer mehr gezeigt, daß ich einerseits eh fast nur mit Leuten klar komme die auch "gestört" sind und deswegen auf einer "Wellenlänge" mit mir, aber andererseits eben auch Freunde die ich seit meiner Kindheit hatte, "gestört" sind. (Mit gestört meine ich fachärztliche Diagnosen bis hin zu Schizophrenie. Es gibt halt etwas in uns was das uns gewaltig stört.)
Irgendwie hatten meine allerbesten Vertrauten und ich schon damals eine Art, Dinge die uns wegen unserer, relativ gemeinsamen, Vergangenheit belasten oder durch den Kopf gehen, einander nur zum Teil zu sagen.
Scheinbar aus Furcht, daß wir damit im Anderen ein "Kopfkino" erzeugen, daß sich dann zu real erlebt anfühl, aber nur aus "Symphatie/Emphatie" (was auch immer) entsteht. Das würde ja letztendlich uns allen schadet, weil es die Wahrheitssuche danach was wahr-war und was nicht, total erschweren.
Aber andererseits haben paar Bekannte gemeint: "Wenn du auf etwas das einer dir erzählt SO stark ansprichst, dann hat das Thema sehr wohl was mit dir zu tun".
Kann man/ kann das Gehirn denn erkennen ob etwas selbst erlebt oder nur "mit empfunden" ist? Und wie erkennt man das?
Irgendwie weiß ich meisten wenn ich etwas nur geträumt habe. Aber manchmal wirken meine Träume so real, daß ich echt nur durch Hinweise aus meinem Umfeld weiß ob es ein Traum oder Realität war. Deshalb habe ich Angst "Erinnerungen" falsch einzuordnen!
Herzlichen Dank!
1 Antwort
Das ist natürlich eine Sache, die Betroffene sehr belasten kann. Viele Betroffene haben Erinnerungslücken von dem was sie erlebt haben oder sind sich nicht ganz sicher, ob das wirklich so gewesen ist oder ob es nur "ausgedacht" war. Das ist umso mehr der Fall, je schwerer und auch je früher solche Dinge im Leben des Menschen passiert sind.
Herausfinden, ob es wirklich so war, wird man bei Ereignissen die so weit in der Vergangenheit liegen leider eher weniger können. Unser Gehirn hat es sehr gern, wenn es Erinnerungen am Stück und in sich schlüssig im Gedächtnis abspeichern kann. Bei schweren traumatischen Erfahrungen, z.B. eben sexuelle Gewalt in der Kindheit, ist es möglich, dass sich ein Schutzmechanismus des Gehirns aktiviert der wie ein "Notschalter" funktioniert und dazu führt, dass man von seiner Umgebung nichts mehr mitbekommt, nichts mehr spürt, nichts mehr fühlt, nichts mehr mitbekommt. Dies passiert, damit Menschen in höchster Not davor sicher sind, ihre eigene Integrität zu schützen. Man kann das auch im Tierreich beobachten, wenn beispielsweise ein Tier gejagt wird und weder Flucht noch Kampf hilft, dann erstarren sie und stellen sich wie tot. Höchstwahrscheinlich bekommen die Tiere dann nicht mal mehr mit, dass sie unter Schmerzen sterben müssen.
Dadurch können Erinnerungslücken entstehen.
Allerdings gibt es in unserem Gehirn einen Mechanismus, der nicht zusammenhängende oder in sich geschlossene Erinnerungen mit eigenen Inhalten "auffüllt", so dass diese Erinnerung dann als zusammenhängend abgespeichert werden kann. Für den Betroffenen ist es dann so, wie wenn es wirklich real passiert ist. Das kann natürlich zu einem späteren Zeitpunkt für Schwierigkeiten sorgen, vor allem wenn man sich irgendwann entschließt, den rechtlichen Weg zu gehen (wovon ich prinzipiell abraten muss, da gut 9 von 10 Verfahren hierzulande eingestellt werden und es einen enormen, belastenden Kraftakt für die Betroffenen bedeutet, von den Kosten und dem Risiko einer Gegenanzeige mal ganz zu schweigen).
Wo man dieses Phänomen auch beobachten kann ist, wenn mehrere von der selben Sache Betroffene vernommen werden und jeder den Ablauf etwas anders beschreibt. Auch wenn man beispielsweise nur einen Teil des Gesichts des Täters in real gesehen hat, bastelt der Kopf ein vollständiges Bild des Gesichts, was dazu führen kann, dass völlig unterschiedliche Personen beschrieben werden und sich jeder sicher ist, dass der Täter so ausgesehen hat. Dieser Tatsache sollte der Polizei bewusst sein, wenn sie traumatisierte Opfer verhört.
In der Traumatherapie gibt es eine wesentliche Grundannahme: alles hat seinen "guten Grund". Unser Gehirn ist immer drauf aus seine eigene Integrität und Gesundheit zu bewahren, was in deinem Fall bedeutet, dass es ja irgendetwas in deiner Vergangenheit gegeben haben muss, da du ansonsten keine Symptome entwickeln würdest. Was genau daran jetzt wirklich passiert ist oder nicht, wird man nicht rausfinden. Was allerdings passiert, sind die Symptome die du heutzutage hast. Offensichtlich gibt es ein Ereignis oder mehrere Ereignisse, die dein Kopf alleine noch nicht geschafft hat zu verarbeiten und als Erinnerung abzulegen. Diese Ereignisse sorgen noch für überschießende Reaktionen bei dir, was ein Zeichen ist, dass die Verarbeitung alleine nicht möglich ist.
Hier greift die Traumatherapie gut, letztlich die Hilfestellung für den Kopf, das Ereignis zu verarbeiten, damit es als Erinnerung abgelegt werden kann, ohne Reaktionen darauf auszulösen.
Ich danke Ihnen vielmals für Ihre klare und ausführliche Antwort! Danke!