Das Vorlaufen in Heidegger "Sein und Zeit"

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Mit «Vorlaufen» meint Martin Heidegger eine Ausrichtung auf die Zukunft, bei der das Dasein den eigenen Tod erschließt, sich auf das Ende des eigenen Lebens (Sterblichkeit, eine zeitliche Endlichkeit) bezieht und sich aus dem Tod heraus/vom irgendwann, aber unausweichlich eintretenden Tod her zu entwerfen. Das Dasein kommt dann vom Vorlauf einer vorweggenommenen Zukunft zurück zu Möglichkeiten in Situationen und dabei eröffnet sich eine Art und Weise, Entschlüsse zu fassen.

Das Dasein kann sich angesichts des Todes selbst ergreifen. Der Tod betrifft also das Leben und wirkt in dem Vorlaufen (das einen Vorgriff auf den Tod darstellt) auf das Leben. Das Vorlaufen als Sein zum Tode gibt Gelegenheit, sich von der Verfallenheit und Verlorenheit des «Man» (die Gewöhnlichkeit und Üblichkeit der Alltäglichkeit, in der sich Menschen zunächst und zumeist befinden; sie wird als einebnend, das Große und Bedeutende nivellierend, als auf eine banale Durchschnittlichkeit zurechtmachend gedeutet, in Konventionen in der vorhandenen auf Öffentlichkeit ausgelegten Gesellschaft) zu lösen/befreien. Das Vorlaufen kann zu der Auseinandersetzung mit der Frage führen, ob Entschlüsse echte eigene Entschlusse sind oder vom «Man» stammen. Das Vorlaufen in die Möglichkeit des Lebensendes zwingt das vorlaufende Seiende in die Möglichkeit, sein eigenstes Sein von ihm selbst her aus ihm selbst zu übernehmen.

In der Todesanalyse steckt eine radikale Endlichkeit. Das Dasein befindet sich vor dem Nichts der möglichen Unmöglichkeit seiner Existenz. Der Tod wird existenzial als die Möglichkeit der Unmöglichkeit der Existenz begriffen, das heißt als schlechthinnige Nichtigkeit des Daseins.

Das Vorlaufen als Sein zum Tode führt als vorlaufende Entschlossenheit zum eigentlichen Sein zum Tode. Dabei geht es um ein mutiges Aushalten und ein ursprüngliches und ganzes genanntes Seinskönnen (Möglichkeiten ergreifen und nicht ergreifen)

Es kann eine Erfahrung des Todes anderer geben, die zur Auffassung führt, sterblich zu sein. Außerdem halten Manschen es empirisch für wahr, daß sie einmal sterben werde, und dies mit hochgradiger Sicherheit. Das Vorlaufen wird vor allem über das befindliche Verstehen möglich. Geworfenheit in den Tod enthüllt sich besonders ursprünglich und eindringlich in der Grundbefindlichkeit der Angst. Das Sein zum Tode ist nach Heidegers Meinung wesenhaft Angst.

Der Tod ist nach Heideggers Auslegung eine Begrenztheit des Daseins und hat als Kennzeichen, folgendes zu sein:

1) eigenste Möglichkeit: unter allen Möglichkeiten herausragend/ausgezeichnet, von denen das Dasein betroffen werden kann; eigener Tod kann letztlich nicht von anderen abgenommen bzw. vertreten werden

2) unbezügliche Möglichkeit: löst aus allen vertrauten Bezügen und vereinzelt

3) unüberholbare Möglichkeit: äußerste Möglichkeit, kann nicht überboten werden, schließt alle vorgelagerten Möglichkeiten mit ein

4) gewisse Möglichkeit: Es ist offensichtlich, daß der Tod kommen wird.

5) unbestimmte Möglichkeit: Wann der Tod eintreten wird, ist grundsätzlich nicht vorwegnehmbar.

So vorrangig den Tod bzw. das Vorlaufen zu ihm zur Grundlage des Denkens zu machen, ist anfechtbar. Die Sterblichkeit, die einen endlichen/begrenzten zeitlichen Spielraum für das Handeln eines Individuums bedingt, kann, als Seinsverständnis genommen, einschärfen, bei Entschlüssen sorgfältig zu sein und auf das Umsetzen eigener Bestrebungen zu achten. Der Tod ist aber nicht als leitender Orientierungsmaßstab geeignet. Er ist Entzug von Möglichkeiten. Bei Eigentlichkeit und Entschlossenheit ist nicht deutlich, welche Entschlüsse nach welchen Kriterien einen Vorzug verdienen. Echtheit, Authentizität, gesteigerter Selbstbezug sind verschwommene Kennzeichnungen, so etwas kann leicht alles und nichts sein. Während in Heideggers Todesansalyse immerhin einige Einsichten enthalten sind, ist die darauffolgende Gewissensdeutung von Grund auf verkehrt. In ihr wird zu Willkür, Beliebigkeit, Loslösung von Regeln, Vorschriften und Normen freigesetzt.


Albrecht  04.08.2014, 09:30

Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927). Zweiter Abschnitt: Dasein und Zeitlichkeit. Erstes Kapitel: Das mögliche Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode. § 50. Die Vorzeichnung der existenzialontologischen Struktur des Todes

„Der Tod ist eine Seinsmöglichkeit, die je das Dasein selbst zu übernehmen hat. Mit dem Tod steht sich das Dasein selbst in seinem eigensten Seinkönnen bevor. In dieser Möglichkeit geht es dem Dasein um sein In-der-Welt-sein schlechthin. Sein Tod ist die Möglichkeit des Nicht-mehr-dasein-könnens. Wenn das Dasein als diese Möglichkeit seiner selbst sich bevorsteht, ist es völlig auf sein eigenstes Seinkönnen verwiesen. So sich bevorstehend sind in ihm alle Bezüge zu anderem Dasein gelöst. Diese eigenste, unbezügliche Möglichkeit ist zugleich die äußerste. Als Seinkönnen vermag das Dasein die Möglichkeit des Todes nicht zu überholen. Der Tod ist die Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit. So enthüllt sich der Tod als die eigenste, unbezügliche, unüberholhare Möglichkeit.“

Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927). Zweiter Abschnitt: Dasein und Zeitlichkeit. Erstes Kapitel: Das mögliche Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode. § 52. Das alltägliche Sein zum Ende und der volle existenziale Begriff des Tode

„Die vollständige Interpretation der alltäglichen Rede des Man über den Tod und seine Weise, in das Dasein hereinzustehen, führte auf die Charaktere der Gewißheit und Unbestimmtheit. Der volle existenzial-ontologische Begriff des Todes läßt sich jetzt in folgenden Bestimmungen umgrenzen: Der Tod als Ende des Daseins ist die eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins. Der Tod ist als Ende des Daseins im Sein dieses Seienden zu seinem Ende.“

Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927). Zweiter Abschnitt: Dasein und Zeitlichkeit. Erstes Kapitel: Das mögliche Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode. § 53. Existenzialer Entwurf eines eigentlichen Seins zum Tode

„Das vorlaufende Freiwerden für den eigenen Tod befreit von der Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden Möglichkeiten, so zwar, daß es die faktischen Möglichkeiten, die der unüberholbaren vorgelagert sind, allererst eigentlich verstehen und wählen läßt. Das Vorlaufen erschließt der Existenz als äußerste Möglichkeit die Selbstaufgabe und zerbricht so jede Versteifung auf die je erreichte Existenz.

Weil das Vorlaufen in die unüberholbare Möglichkeit alle ihr vorgelagerten Möglichkeiten mit erschließt, liegt in ihm die Möglichkeit eines existenziellen Vorwegnehmens des ganzen Daseins, das heißt die Möglichkeit, als ganzes Seinkönnen zu existieren.“

„Die Charakteristik des existenzial entworfenen eigentlichen Seins zum Tode läßt sich dergestalt zusammenfassen:

Das Vorlaufen enthüllt dem Dasein die Verlorenheit in das Man-selbst und bringt es vor die Möglichkeit, auf die besorgende Fürsorge primär ungestützt, es selbst zu sein, selbst aber in der leidenschaftlichen, von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstenden
F r e i h e i t zum T o d e.

Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927). Zweiter Abschnitt: Dasein und Zeitlichkeit. Erstes Kapitel: Das mögliche Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode. § 62. Das existenziell eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins als vorlaufende Entschlossenheit

„Hat das In-der-Welt-sein eine höhere Instanz seines Seinkönnens als seinen Tod?“

Auf diese rhetorische Frage wird die Antwort Nein nahegelegt.

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iljuschka 
Beitragsersteller
 05.08.2014, 20:51
@Albrecht

Danke dir vielmals- kurz, verständlich und prägnant erklärt! Du hast mir Heideggers Todesanalyse um einiges verständlicher gemacht! Lg

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„Vorlaufen“ heißt bei Heidegger so viel wie die Endlichkeit, den Tod in das Denken mit einzubeziehen, zu erkennen, dass das Dasein nichts weiter ist als Vorlauf zum Tode. Anders ausgedrückt: Man muss das Dasein „vom Tode her denken“, erst dann lebt man „eigentlich“, löst sich aus dem unsäglichen „Man“ (= ein bloßes „Vorhanden-sein, was der Würde des Menschen nicht angemessen ist) und ist dann auch (indem man also diesen Vorlauf zum Tode zur Grundlage seines Denkens macht) in der Lage, das „Sein“ zu erahnen. Was das „Sein“ ist, steht hier nicht zur Debatte (ist auch nur schwer zu definieren, bzw. es ist, lt. Heidegger, gar nicht möglich, das "Sein" zu definieren; man kann es, wie gesagt, nur erahnen).


iljuschka 
Beitragsersteller
 31.07.2014, 12:29

Sehr hilfreiche Antwort- danke dir vielmals! Und wie genau gelangt das Dasein auf den Tode bezogen aus dem Zustand der "Uneigentlichkeit", in dem es ja an das "Man" verfallen ist und in dem es sich gemäss Heidegger zumeist auch befindet, hin zum Zustand der Eigentlichkeit? Wird das Vorlaufen über die Angst möglich (denn Heidegger scheint zu Beginn des 53. § zu verneinen, dass das Vorlaufen "lediglich" durch Reflexion, oder wie er sagt durch "grübeln" über den Tod möglich sei)? Lg

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Haldor  09.08.2014, 13:02
@iljuschka

„Wird das Vorlaufen über die Angst möglich (denn Heidegger scheint zu Beginn des 53. § zu verneinen, dass das Vorlaufen "lediglich" durch Reflexion, oder wie er sagt durch "grübeln" über den Tod möglich sei)?“ - Hier musst du von den Existenzialen „Sorge“, „Gewissen“, „Angst“, „Entschlossenheit“ und „Eigentlichkeit“ ausgehen: Diese Befindlichkeiten bzw. Handlungsmotive bergen die Möglichkeiten in sich, dass das (menschliche) Dasein zur „Existenz“ gelangen kann. Das Dasein (der Mensch) hat die Neigung, sich in der Alltäglichkeit, dem „Man“, zu verlieren, weil es dort Befreiung von seiner Angst erhofft. Denn das Leben ist notwendig mit Angst, mit Sorge und mit dem Anruf des Gewissens verbunden. Dies folgert Heidegger aus einer Grundstimmung des Daseins. Der Mensch ist nicht nur ein erkennendes, sondern auch ein von Stimmungen heimgesuchtes Wesen. Eine dieser Stimmungen ist eine unerklärliche Angst, die aus der Erfahrung stammt, dass es mit dem Dasein nichts ist. Denn das Dasein wird ja aus dem Nichts in die Welt geworfen, und es versinkt am Ende des Lebens wieder im Nichts. Dieser harten Tatsache kann sich niemand entziehen, und sie überkommt das Dasein mit dieser unerklärlichen Angst. Zweitens folgt aus dem Nichts der Ruf des Gewissens. Dies hat nichts mit moralischer Schuld zu tun, sondern einfach mit der Tatsache, dass das Dasein als Möglichkeit des Freiseins sich nicht im „Man“ (in der Unfreiheit) verlieren darf, ohne Gewissensbisse zu bekommen (alle diese Grundstimmungen „Angst“, „Ruf des Gewissens“ und das - niederschmetternde - „Gefühl des Verfallenseins an das „Man“ hat Heidegger unter dem Begriff „Sorge“ zusammengefasst). Aus dem „Man“ kann sich der Mensch nur herauslösen, indem er sich „entschlossen“ von der Uneigentlichkeit (= Man) in die „Eigentlichkeit“ des Daseins begibt, die Heidegger früher auch „Existenz“ nannte (später sprach er von „Ek-sistenz“, um sich von den Existentialisten abzusetzen). „Existenz“ heißt so viel wie: das Dasein vom Tode her denken. Dann erst steht der Mensch in der „Lichtung des Seins“, d.h. Das Sein offenbart sich ihm (er kann es erahnen). Das „entschlossene“ Hinausstehen in die „Eigentlichkeit“ ist sehr schwer, weil das „Man“ klebrig“ ist, es zieht den Menschen leicht wieder in die Scheingeborgenheit der Uneigentlichkeit hinab. Außerdem ist der Preis des „eigentlichen“ Daseins die Einsamkeit, da die meisten gerne uneigentlich leben. Allenfalls ein „existentielles Mitsein“ (mit einem DU, eventuell auch mit mehreren, in einem Orden z.B.) ist nach Heidegger möglich. Das „eigentliche“ Dasein der „Existenz“ kann aber auch einem Menschen unfreiwillig aufgezwungen werden: durch Katastrophen oder tödliche Krankheiten, die ihn in Todesnähe bringen. Er wird dann sozusagen in die Eigentlichkeit des Daseins „hinauskatapultiert“.

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Das Vorlaufen in den Tod bzw. in die "Möglichkeit der Unmöglichkeit von Existenz" wird Heidegger zwei Kapitel später auch als "Vorlaufen in die schlechthinnige Nichtigkeit" bezeichnen. Im Erwarten des Todes, das Heidegger hier zurückweist, machen wir den Tod zu etwas, das heißt wir stellen uns vor, wie der Tod sein wird und verstellen damit seinen Nichtigkeitscharakter. Genau dieser aber kommt im Vorlaufen zum Tragen: auch wenn wir das Nichts logisch nicht fassen können (denn dann wäre es ja etwas), erfahren wir es in der Angst. 

Diesen Gedanken bringt Heidegger zwar nicht auf den Punkt, aber mit ihm fügt sich das, was Heidegger schreibt, logisch zusammen. In seinem Vortrag "Was ist Metaphysik?" wird er genauer auf das Nichts eingehen.

Das "Vorlaufen" ist der Ruf des Grabes, der dem Knirschgeräusch der Sandschippen vorausgeht. Marc Aurel soll einen Totenschädel auf seinen Schreibtisch gestellt haben. Das hat ihn weder von seiner römischen, alles zertrampelnden Machtpolitik abgehalten noch dazu geführt, dass er seinem Sohn Commodus eine vernünftige Erziehung mitgeben konnte. Im Moment ist mit Blick auf unsere Sterblichkeit eher das Wegschauen und Weglaufen angesagt. Da "frisst die Medizin Vermögen", ohne dafür auch nur ein Quäntschen mehr Lebensqualität in der künstlichen Lebensverlängerung anzubieten. Und die politischen Elite-Demokraten tun alles, dem Volk immer weniger Selbstbestimmung über das eigene Leben zu geben. Was also sorgt ihr euch um den Tod. Sorgt euch um die Machenschaften eurer Politiker, die euch zum Tod hin immer früher entmündigen. Die selbst denken weniger an ihren Tod als an ihre Kontenstände.


berkersheim  31.07.2014, 18:41

Übrigens sagen "normale Menschen" zum "Vorlaufen" LEBEN! Wer sein Leben vom Tod her denkt ist "krank". Wer denkt, wenn er sich ein Bier einschenkt, vom Sturz von der Kellertreppe her? Eine Gesellschaft ohne das "Man" funktioniert nicht, das wäre Integrations- und Kooperationsverweigerung. Sowas kann man denken, wenn man selbst aus der Sicherheit einer Festanstellung als Professor lebt. Erst zehn Sicherheitsgurte und dann den "wilden Mann" machen!

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