Aristotelische Tugendlehre - tugendhaft handeln?

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Richtig verstanden ist, die Verstandestugenden bei Aristoteles nicht als Mitte zwischen Mangel und Übermaß aufzufassen, aber falsch verstanden ist, deswegen solle man bei den Verstandestugenden nicht tugendhaft handeln. Es ist ja auch unlogisch, wenn Tugenden darin bestehen, nicht tugendhaft zu handeln.

Der Fehler liegt darin, Tugend bei Aristoteles ganz allgemein als Mitte zwischen Mangel und Übermaß an Emotionen zu deuten. Eine solche Bestimmung gilt aber nur für die Charaktertugenden. Der Begriff „tugendhaft" ist also wirklich falsch interpretiert.

Tugend/Vortrefflichkeit/Tüchtigkeit (ἀρετὴ) ist nach Aussage von Aristoteles, Metaphysik 5, 6, 1021 b 20 eine Vollendung/Vollkommenheit (τελείωσις).

Am besten ist ein Höchstmaß an Weisheit (die Aussage in der Fragebeschreibung „dass die oberste Grenze (z.B. bei der Weisheit) erreicht wird“ scheint dies zu meinen und insoweit richtig zu sein). Es gibt kein Zuviel an Weisheit oder einer anderen Verstandestugend. Eine Steigerung zu einem Höchstmaß (Extrem) bei den Verstandestugenden führt nicht zu einer Schlechtigkeit. Darin besteht ein Unterschied zu den Charaktertugenden (mit Ausnahme des Sonderfalls der Gerechtigkeit, bei der es auch kein Zuviel gibt; es gibt kein Übermaß an Gerechtigkeit, bei dem sie zu einer Schlechtigkeit wird; Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 9 versteht die Gerechtigkeit als eine Mitte der Sache; beim Verteilen wird weder zuwenig noch zuviel gegeben oder genommen).

Das griechische Wort ἀϱετή (arete) bedeutet der Wortherkunft nach (ἄϱιστος [aristos] = „bester“ ist als Superlativ eine Steigerung von ἀγαϑός [agathos] = „gut“) etwas wie „Bestheit“ bzw. ein hervorragendes Gutsein. In der deutschen Sprache sind Tugend, Vortrefflichkeit und Tüchtigkeit die hauptsächlichen Übersetzungsmöglichkeiten.

Charaktertugenden bei Aristoteles

Aristoteles versteht Charaktertugend/Vortrefflichkeit des Charakters allgemein und die einzelnen Tugenden/Vortrefflichkeiten des Charakters als (richtige) Mitte, die zwischen einem Zuviel (ὑπεϱβολή [hyperbole]; Übertreibung/Übermaß) und einem Zuwenig (έλλειψις [elleipsis]; Zurückbleiben/Mangel) liegt.

Die Tugenden/Vortrefflichkeiten des Charakters haben einen Bezug zu Affekten (Leidenschaften), die mit Lust und Schmerz verbunden sind (Aristoteles, Nikomachische Ethik 2, 2; 2, 4; 2, 5).

Charaktertugenden/Vortrefflichkeiten des Charakters/ethische Tugenden sind feste innere Haltungen/Einstellungen, aus denen heraus Menschen gut handeln.

Definition und wesentliche Merkmale der Charaktertugend/Vortrefflichkeit des Charakters als Mitte (Aristoteles, Nikomachische Ethik 2, 6, 1106 b 36 – 1107 a 8):

„Die Tugend/Vortrefflichkeit (ἀετή [arete) ist also eine wählende/vorsätzliche Haltung/Einstellung (ἕξις [hexis]; lateinisch: habitus), die in der auf uns bezogenen Mitte liegt, die durch vernünftige Überlegung bestimmt ist, und zwar durch die, mittels derer der Kluge die Mitte bestimmen würde. Sie ist aber Mitte von zwei Schlechtigkeiten, einer des Übermaßes und einer des Mangels. Und ferner ist sie insofern Mitte, als die Schlechtigkeiten teils hinter dem, was in den Leidenschaften und Handlungen sein soll, zurückbleiben, teils darüber hinausschießen, die Tugend/Vortrefflichkeit aber das Mittlere sowohl findet als auch wählt. Daher ist die Tugend/Vortrefflichkeit nach ihrem Sein/ihrer Wesenheit/ihrer Substanz (οὐσία [ousia]) und ihrem Begriff, der angibt, was sie ist, Mitte, hinsichtlich des Besten und des Guten aber Äußerstes/Höchstes.“

Die Mitte (μεσότης [mesotes]) bei Aristoteles ist eine innere Haltung/Einstellung (denkbar ist, sie als eine Verhaltensdisposition zu bezeichnen), die auf ein richtiges Verhältnis zu Affekten (Leidenschaften) und auf das in einer Lage angemessene Verhalten ausgerichtet ist. Sie ist nicht mit Durchschnittlichkeit und Mittelmäßigkeit zu verwechseln, worauf volkstümliche Vorstellungen über einen goldenen Mittelweg (lateinisch: aurea mediocritas) leicht hinauslaufen. Die Mitte bei Aristoteles ist auch nicht etwas, das für alle und immer stets quantitativ genau das Gleiche ist. Die gemeinte Mitte hat nicht einen mathematisch genau gleichen Abstand von Extremen. Sie kann je nach einer bestimmten Situation und der handelnden Person (z. B. sind Körperkraft und finanzielle Verhältnisse individuell unterschiedlich) unterschiedlich liegen und auch mal deutlich zu einer Seite hin.

Die Mitte der Sache hat den gleichen Abstand von den beiden Extremen und ist für alle Menschen ein und dasselbe (Aristoteles, Nikomachische Ethik 2, 5, 1106 a 29 - 31).

Das Mittlere in Bezug auf die Menschen (auf uns) ist dagegen weder zuviel noch zuwenig, dies aber nicht für alle als ein und dasselbe (Aristoteles, Nikomachische Ethik 2, 5, 1106 a 31 - 32).

Sonderfall Gerechtigkeit: Bei der Gerechtigkeit gibt es eine gewisse Abweichung vom Schema. Wie Aristoteles selbst darlegt (Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 9, 1133 b – 1134 a), ist Gerechtigkeit eine Mitte der Sache, nicht eine Mitte „für uns“. Gerechtigkeit ist nicht etwas, das bei Steigerung falsch ist, sondern die von der Mitte der Sache abweichenden Extreme sind jeweils Ungerechtigkeit. Dies ist kein grundsätzlich die Richtigkeit der Lehre von der Mitte widerlegendes Argument, sondern eines gegen die starke Betonung der Mitte durch Aristoteles; Mitte zu sein, ist eine Erscheinungsform bei den Charaktertugenden, aber das entscheidende Wesensmerkmal ist das Angemessene und Handeln nach der praktischen Vernunft/Klugheit (φϱόνησις [phronesis]; diese verbindet ein Wissen über allgemeine Prinzipien mit umsichtiger und geschickter Anwendung im Einzelfall) Richtige.

Verstandestugenden bei Aristoteles

Bei Verstandestugenden/Vortrefflichkeiten/Tugenden des Verstandes/dianoetischen Tugenden (ἀϱεταὶ διανοηϑικαί [aretai dianoetikai]) gibt es kein Zuviel.

Aristoteles, Nikomachische Ethik 6, 1 - 13 untersucht Kunstfertigkeit/Technik (τέχνη), Klugheit/praktische Vernunft (φρόνησις), Vernunft/Geist (νοῦς), Weisheit (σοφία), Wohlberatenheit (εὐβουλία), Verständigkeit (σύνεσις), Einsicht/Urteilskraft in Bezug auf das Billige (γνώμη) und ihr Verhältnis zueinander.

Es gibt bei Aristoteles in der Tat Tugenden, bei denen es auf eine Mitte ankommt. Er nennt dabei insbesondere die Tugend der Tapferkeit. Das ist aber nicht bei allen so. Bei Weisheit und Gerechtigkeit gibt es kein Übermaß.

Es geht A. in der Nikomachischen Ethik auch nicht eigentlich um das Handeln. Tugenden sind Fähigkeiten, aber auch Charaktereigenschaften. Das Buch ist ein Erziehungsbuch. Der Zögling soll zu einem tugendhaften Charakter erzogen werden. Danach handeln kann er erst als Erwachsener.