Aristoteles Idee des Guten vs Platon?

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Aristoteles argumentiert in der Nikomachischen Ethik gegen eine Idee des Guten, wie sie von Platon und dessen Schülern vertreten wird. Die Auseinandersetzung ist ein schwieriges Thema, auch weil Aristoteles lange Zeit zur platonischen Akademie gehörte und selbst Allgemeines als in bestimmter Weise als wirklich annimmt.

Eine Deutung, Platon habe keine Ideen zu etwas angenommen, von dem in der Form von Vergangenheit und von Zukunft geredet werden kann, und Ideen seien dabei keine aufrechtzuerhaltende Denkmöglichkeit, ist unzutreffend. Platon hat Ideen zu Einzeldingen angenommen, bei denen es ein zeitliches „früher“ und später“ gibt, z. B. die Idee des Tisches und die Idee des Bettes (Politeia 596 d). Das gerechte Handeln eines Menschen hat am Gerechten an sich Anteil. Die Idee des Gerechten geht aber nicht verloren oder wird ausgelöscht, wenn ein Mensch nicht mehr gerecht handelt, sondern ungerecht. Ein einzelner Mensch ist nicht ein „an sich“ des Gerechten und die Ideen verlieren nach Platon nicht ihr Sein, wenn an ihr teilhabende Einzeldinge einer Veränderung unterliegen und in einem zeitlichen Abstand die Teilhabe nicht mehr gegeben ist.

Mit dem „Früher“ und „Später“ meint Aristoteles eine Reihung in einem Verhältnis von Bedingendem und Bedingten. Er knüpft zustimmend daran an, dabei keine Ideen anzunehmen und folgert, dieser Standpunkt müsse im Grunde die Annahme einer gemeinsamen Idee der in den verschiedenen Kategorien ausgesagten Güter nach den Prinzipien Platons selbst verbieten. Aristoteles wendet gegen Platon ein, dies in Bezug auf das Gute nicht zu beachten.

Kommentare zur Nikomachischen Ethik (wohl hauptsächlich in wissenschaftlichen Bibliotheken vorhanden) sind eine Möglichkeit, nach einer einleuchtenden Erklärung zu suchen, z. B.:

Aristotle, The Nicomachean Ethics. A commentary by the late H. H. Joachim. Edited by D. A. Rees, Oxford : Clarendon Press, 1951, S. 37 – 41

eine nützliche Erläuterung bietet:

Hellmut Flashar, Die Platonkritik (I 4). In: Aristoteles: Nikomachische Ethik. Herausgegeben von Otfried Höffe. 3., gegenüber der 2. bearbeiteten, unveränderte Auflage. Berlin : Akademie-Verlag, 2010 (Klassiker auslegen ; Band 2), S. 63 – 82

Argumente, die Aristoteles gegen die platonische Lehre vorbringt sind:

1) Argument von der Reihung (1096 a 17 – 23)

Vertreter der Ideenlehre haben überall, wo sie von „Früher“ und „Später“ redeten, keine Ideen angenommen, daher auch für die Zahlen (in ihrer Gesamtheit) keine (umfassende) Idee angesetzt.

Das Gute wird in einer Reihe ausgesagt, die im Verhältnis von „Früher“ und „Später“ steht, nämlich der Kategorienreihe. Bei Platon ist die Mannigfaltigkeit alles Guten unter der Idee des Guten subsumiert. Aristoteles hält ihm vor, nach Platons eigenem Grundsatz zu einer solchen Reihung sei es nicht möglich, eine derartige umfassende Idee des Guten anzusetzen.

2) Kategorienargument (1096 a 23 – 29)

Angesichts der kategorialen Differenziertheit des Seienden gebe es kein „Allgemeines, das gemeinsam und eines wäre“.

3) Wissenschaftsargument (1096 a 29 – 34)

Das Gute tritt selbst innerhalb einer einzelnen Kategorie in mannigfaltigen Erscheinungsformen auf.

Von den Dingen, die unter einer einzigen Idee begriffen werden, gibt es auch nur eine einzige Wissenschaft, so daß es von allem Guten auch nur eine einzige Wissenschaft gäbe, was aber faktisch nicht zutrifft.

4) Argument von der Hypostasierung (1096 a 34 – b 3)

Hypostasierung einer Sache durch das Präfix „selbst" (αὐτό) ist sinnlos, und der Ausdruck „die Sache selbst unverständlich. Der „Mensch selbst“ und der „Mensch“ unterliegen nämlich der gleichen Wesensbestimmung, ohne daß eine Differenzierung erkennbar wäre. Das Gleiche gilt auch für das „Gute selbst“ und das „Gute“. Aristoteles wendet sich gegen die Abtrennung eines „Guten selbst“ bzw. eines „Guten an sich“ von den Einzeldingen. Dabei liegt seiner Kritik zugrunde, daß mit dem Präfix αὐτό das Gleiche ausgedrückt wird wie mit der Bezeichnung Idee.

5) Argument von der Ewigkeit (1096 b 3 – 5)

Es ist nicht etwas dadurch, daß es lange ist, in stärkerem Maße gut, denn auch die Intensität einer Farbe ist nicht an zeitliche Dauer gebunden. Was lange Zeit weiß ist, ist nicht weißer als das, was einen Tag weiß ist.

Die Annahme einer „Sache selbst“ als ewigen, von den Einzeldingen abgetrennten Idee intensiviert eine bestehende Idee nicht. Das gilt auch für das einzelne Gute im Verhältnis zu einer angenommenen „Sache selbst“, als einer Idee des Guten.


Albrecht  17.06.2011, 03:58

Flashar S. 65 – 66:

Wie das Begriffspaar „Früher“ (πρότερον) und „Später“ (ὕστερον) zu verstehen ist, ergibt sich aus Aristoteles, Metaphysik Δ 11, 1019 a 4, als Verhältnis von Bedingendem und Bedingten.

Für Aristoteles ist die Unterscheidung deutlich: Die erste Kategorie, die Sache selbst, ist die Bedingung dafür, daß die Kategorien der Qualität, Quantität und so weiter von der Sache ausgesagt werden können.

Für Platon ist indessen das Begriffspaar in einem anderen Zusammenhang von Belang. Nach Berichten über die mündliche Lehre hat Platon neben den mathematischen Zahlen noch andere, nur bis 10 reichende Idee-Zahlen angesetzt, die im Verhältnis des „Früher“ und „Später“ stehen und nicht „operabel“ sind. Ob Aristoteles hier wirklich an die Ideen-Zahlen oder an mathematische Zahlen dachte, ist umstritten. Es kommt darauf auch nicht an, da mit dem Zahlenargument nur ein Beispiel für einen allgemeinen Sachverhalt gegeben ist, wonach es durchaus mehrere solcher reihen geben kann, die im Verhältnis des „Früher“ und „Später“ stehen und demzufolge unter keiner gemeinsamen Idee subsumierbar sind. Der entscheidende Punkt ist: Es gibt nicht „die Idee Zahl“ als Allgemeinbegriff aller Zahlen. Dazu, ob die Zahlen den Charakter von Ideen haben können, äußert Aristoteles sich nicht.

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Mandava 
Beitragsersteller
 17.06.2011, 09:12
@Albrecht

Hallo,

erst einmal vielen Dank für die ausführliche Antwort. Du hast dir viel Mühe gegeben. Leider hab ich den Höffe bereits vor mir liegen und bin aus den Ausführungen von Flashar nicht schlau geworden (ebenso: Ursula Wolf). Vielleicht fehlt mir einfach das Hintergrundwissen denn Platon habe ich nie gelesen. Ehrlich gesagt hast du mich jetzt noch mehr verwirrt xD

  1. Inwiefern gibt es ein früher oder später bei einer Idee des Tisches?

2.

Mit dem „Früher“ und „Später“ meint Aristoteles eine Reihung in einem Verhältnis von Bedingendem und Bedingten. Er knüpft zustimmend daran an, dabei keine Ideen anzunehmen und folgert, dieser Standpunkt müsse im Grunde die Annahme einer gemeinsamen Idee der in den verschiedenen Kategorien ausgesagten Güter nach den Prinzipien Platons selbst verbieten. Aristoteles wendet gegen Platon ein, dies in Bezug auf das Gute nicht zu beachten

Den Absatz verstehe ich nüscht. Hast du vielleicht ein Beispiel, was das Ganze deutlicher macht?

Erst mal bis dahin....

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Albrecht  21.06.2011, 06:38
@Mandava

1) Es gibt kein einfach zeitliches Früher und Später bei der Idee des Tisches, nur bei den Einzeldingen, die an ihr teilhaben (Tischen werden z. B. hergestellt und zerstört). Ich wollte mit der Erwähnung der Idee des Tisches nur begründen, warum ein einfaches zeitliches Früher und Später als Deutung ausscheidet. Platon hat zu solchen Einzeldingen Ideen angesetzt und Aristoteles kann bei völlig eindeutigen Textstellen Platons so etwas nicht gemeint haben.

2) Das der Natur (φύσις) und der Wesenheit (οὐσία) Frühere ist das Bedingende, das Spätere das Bedingte. Früher ist das, was ohne anderes sein kann, später das, was später ist, nicht ohne das Frühere sein kann.

Reihung ist ein Spezialfall der Pros-hen (πρός- ἕν)-Relation, eine Beziehung, in etwas auf einen einzigen gemeinsamen Bezugspunkt zugeordnet ist. Bei der Reihung/Reihe ist etwas nur durch Reihenfolge (ein Nacheinander in verschiedenen Kategorien) eins (Aristoteles, Metaphysik Γ, 2, 1105 a).

Ein Beispiel ist bei Aristoteles das Sein (τὸ εἶναι), das vielfältig, in verschiedenen Kategorien ausgesagt wird. Weil das Sein verschiedene Bedeutungen hat, ist zuerst das Substrat/das Zugrundeliegende (τὸ ὑποκείμενον) früher und deshalb die Wesenheit (ἡ οὐσία) früher, dann auf andere Weise das, was der Möglichkeit nach und der Verwirklichung nach (τὰ κατὰ δύναμιν καὶ κατ᾽ ἐντελέχειαν) ist (Aristoteles, Metaphysik Δ 11, 1019 a).

Das Gute steht sowohl in der Kategorie der Wesenheit (τὸ τί ἐστι) als auch der Qualität (τὸ ποιός) und der Relation (τὸ πρός τι). Das An-Sich (τὸ καθ᾽ αὑτὸ) und Substanz/Wesenheit (ἡ οὐσία) sind der Natur/dem Wesen nach früher als die Relation. Sie sind die Bedingung dafür, daß andere Kategorien vom Guten ausgesagt werden können.

Das Gute an sich hält Aristoteles aber für etwas deutlich anderes als das nur in Bezug auf etwas Gute (Relation) und lehnt daher eine gemeinsame Idee ab.

Anscheinend bezieht sich Aristoteles auf mündliche Lehren und Erörterungen Platons und seiner Schüler, was das Nachvollziehen erschwert, weil stückweise Berichte darüber vorliegen, und diese auch mit einer Deutung des Autors verbunden sein können (nur indirekte Überlieferung). Aristoteles meint, Platon habe die mathematischen Entitäten/Wesenheiten im Unterschied zu den Ideen für pluralisch (viele gleichartige) gehalten (während jede Idee nur eine, sie selbst, ist) im Unterschied zu den Sinnendingen aber für ewig und unveränderlich (Metaphysik A 6, 987 b).

Vielleicht kann eine Darstellung der Metaphysik das verwickelte Thema verständlicher machen und weiterführende Hintergrundinformationen zu dem Abschnitt im Aufsatz liefern:

Hellmut Flashar, Aristoteles. In: Ältere Akademie, Aristoteles, Peripatos (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Herausgegeben von Helmut Holzhey. Die Philosophie der Antike - Band 3). Herausgegeben von Hellmut Flashar. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Basel ; Stuttgart : Schwabe, 2004, S. 338 – 344

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Platon geht ja davon aus, dass (fast) jedes konkrete Ding eine Idee hat. Ich sage "fast", weil Platon selbst nie genau wusste, was alles eine Idee haben soll und was nicht. In seinem Werk Parmenides zum Beispiel, wo seine Dialogführenden Sokrates und Parmenides darin stockten, ob es auch für ungewohnte Dinge wie Kot oder Schlamm Ideen gäbe. Das nur am Rande.

Was Aristoteles mit "früher" und "später" meint, ist folgendes: Platon hat mit seiner Ideenlehre keine Ideen für solche Dinge kreiert, von denen man von "früher" und "später", also Vergangenheit und Zukunft reden kann. Ein Beispiel wäre halt das Gute selbst: Welche Idee soll es geben, wenn Du früher gut warst, heute aber schlecht? Du bist schon seit vielen Jahren da, aber erst vor kurzem wurdest Du schlecht zum Beispiel. Du als Seiendes, also Du als An-Sich, bist in dieser Hinsicht schon immer da gewesen. Das Problem dabei ist nun, dass es keine Idee der Schlechtigkeit gibt. Wenn Du schlecht bist, bist Du nicht im Besitz der Idee des Schlechten, sondern im Nichtbesitz der Idee des Guten. Das Schlechte ist nichts weiter, als das Nichtvorhandensein des Guten und somit nur eine Art "Scheinidee". Nun kann es aber nicht sein, dass Du eine Idee verlierst oder auslöschst, nur weil Du nicht mehr gut bist (zum Beispiel im Sehen oder Hören). "Früher" warst Du gut, "später" aber schlecht. Diese Zeitdistanz ermöglicht eine Auslöschung von Ideen, was Aristoteles kritisiert.

Und aus diesem Grund Aristoteles Aussage, dass es auch für das Gute keine Idee geben kann.


Straytmind  07.06.2011, 18:58

Denn bei der Ideenlehre geht man davon aus, dass diese Ideen ewig sind.

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Mandava 
Beitragsersteller
 07.06.2011, 19:11
@Straytmind

Wow vielen Dank für die einfache und einleuchtende Erklärung :) Jetzt verstehe ich den Teil mit "früher und später" viel besser.

Kannst du mir evt noch sagen wie er das mit den Zahlen gemeint hat? Aus deiner Erklärung würde ich mir das so zurechtbasteln: Es kann keine Idee der Zahl geben da eine Zahl ja auch 1 2 3 4 5 usw umfassen würde was jedoch heissen würde dass, da 5 ja auf 4 folgt und eine 5 ohne eine 4 keine 5 ist sich 4 und 5 gegenseitig Bedingen was jedoch einer umfassenden Idee von "Zahl" wiedersprechen würde.

Ist das so gemeint?

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Straytmind  07.06.2011, 19:53
@Mandava

Mit der Zahl ist es genauso wie mit der Güte: Als Baby warst Du noch einen halben Meter, heute schon mehr als das dreifache. Die Zahl an sich ist nämlich keine Idee eines fest- und immerbestehenden, sondern eines veränderlichen Dings - und zwar, wie Du schon sagtest: aus 1 wird die 2, aus dieser bald eine 3 und so weiter.

Ferner noch etwas: Aristoteles kritisiert noch die Undefiniertheit der Güte, da sie in jedem Teilgebiet anders gesehen wird: Im Sport ist es zum Beispiel gut, Gymnastik zu treiben, in der Medizin ("Heilkunst") ist es die Gesundheit, die gut ist, in der Philosophie vielleicht die Vernunft, in den Wissenschaften das "Schaffen von Wissen" (daher auch der Name: Wissen-schaft). Daher: Wie willst Du im Besitz der Idee des Guten sein - oder ferner: wie soll es die Idee des Guten überhaupt geben -, wenn einzelne Gebiete völlig verschiedenes unter dem Gutsein verstehen?

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Mandava 
Beitragsersteller
 07.06.2011, 20:05
@Straytmind

Jetzt hab ich es verstanden, vielen Dank.

Ja das er noch mehr kritisiert ist mir bewusst. Neben dem was du genannt hast kommt noch hinzu, dass die von der Erfahrungswelt losgelöste Seinswelt (wie Platon sie präferierte) außerhalb unseres Handlungsbereiches liegt und damit für eine praktisch angewandte Ethik, wie die Nikomachische Ethik, nutzlos ist.

Generell versteh ich was Aristoteles sagt (habe auch ganz gute Sekundärliteratur), nur da ich mich in seiner Metaphysik nicht besonders gut auskenne war mir der kurze Einwurf in der NE den ich oben gepostet habe unverständlich.

Vielen Dank nochmal für deine Hilfe. Ich kann komischerweise keine "hilfreichste Antwort" mehr vergeben. Ich wende mich die Tage mal an den Support, sobald das wieder geht bekommst du den verdienten Stern :)

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Straytmind  07.06.2011, 20:12
@Mandava

Kein Problem, ich bedanke mich ebenso! :)

Übrigens möchte ich Dir an dieser Stelle den genannten Dialog Parmenides empfehlen. Er lässt sich auch, wie alle platonischen Dialoge, ergooglen. Der Inhalt ist zwar nicht fließend zu verstehen, aber sehr interessant!

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Mandava 
Beitragsersteller
 07.06.2011, 20:36
@Straytmind

Wenn ich meine Prüfung dazu hinter mir hab gerne. Derzeit bin ich, was Lesestoff angeht, mehr als ausgelastet :)

Ach wenn du Zeit und Lust hast schau mal in meine Descartes Frage rein, die wurde nämlich nicht wirklich beantwortet (auch wenn einige sich viel Mühe gegeben haben). Vielleicht kennst du dich damit ja auch aus ;)

http://www.gutefrage.net/frage/descartes---schmerzuebertragung

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