Hallo Frau Unbekannt,
diese Frage ist wirklich gut und triggert eine sehr wichtige Aussage, die ich erst im Verlauf des Lebens erlenen musste, weshalb ich ausführlich antworten möchte. Ich hoffe, dass der Konsens aller Meinungen auch meine eigene stützt:
Als Kind und Jugendlicher hätte ich mit einem klaren Ja geantwortet. Ich war durch meine alleinerziehende Mutter so erzogen, dass Freundschaft, Partnerschaft, ja alles Zwischenmenschliche immer die höchste Maxime sei. Auch, dass man sich dafür selbst zurücknehmen müsse und die Selbstlosigkeit eine große Tugend sei, ohne die wahre, ehrliche Beziehung zwischen Menschen gar nicht möglich sei.
Das hatte sich dermaßen bei mir eingebrannt, dass ich ganz aufrichtig und ohne zu zögern früher mein letztes Hemd verschenkt und meine letzten Kraftreserven aufgebraucht hätte, um jedem zu helfen. Den Satz "ich würde für mich Dein Leben lassen" fiel sogar öfters meinerseits und ich meinte das vollkommen ernst, malte mir sogar Situationen aus, in denen das nötig gewesen wäre. Es erschien mir wie eine Genugtuung, zu dieser Selbstlosigkeit imstande zu sein.
Notgedrungen geriet ich dann auch in solch eine Situation, als ich eine Partnerschaft mit einer Person erleben durfte, die aufgrund eines tragischen und dramatischen Ereignisses extreme psychische Probleme entwickelte. Was tat ich also in meiner Weltsicht? Helfen um jeden Preis! Das erforderte nicht weniger als die Aufgabe anderer Freundschaften, sportlicher Aktivitäten, ja sogar mein Studium schmiss ich damals, um ganz für sie da sein zu können.
Man kann sich als "vernünftiger" Mensch schnell ausmalen in was das endete: Identitätverlust, Co-Abhängigkeit und vor allem auch im Gegenteil dessen, was ich bewirken wollte: Ich verschlimmerte ihre Situation. Durch meine unverhältnismäßige Selbstaufopferung entstand auf ihrer Seite ein großer Druck begründet in ausbleibenden Wirkungseffekten. Anstatt der Hilfe, die ich eigentlich leisten wollte, wurde ich lediglich ein weiteres Problem und nebenbei ruinierte ich nicht nur die Beziehung, sondern auch mich selbst.
Es dauerte nicht lange, bis ich selbst depressive Züge annahm und in meinem Leben keine Haltepunkte mehr hatte. Ich stürzte ins Bodenlose.
Heute, sehr viele Jahre später, nachdem ich mich aus dem damaligen Tief wieder emporgekämpft habe, würde ich jedem Menschen gerade das Gegenteil ans Herz legen: Liebe Dich selbst immer als ersten und am meisten! Nur Deine eigene Stärke, Dein Leben, Deine Selbstliebe gibt anderen Leuten Lebenskraft!
Mit einem eigenen Opfer mag man kurzfristig etwas bewirken, aber Menschen haben so unterschiedliche Auffassungen und Wahrnehmungen der Welt, so grundverschiedene Bedürfnisse und Verhaltensweisen, dass es völlig irrsinnig ist, zu glauben, man könnte durch eine negative Selbstaufopferung Linderung in deren Leben tragen.
Was jedoch gut funktioniert, ist, aus einer starken und lebensfrohen Position heraus Kraft zu spenden und das Leben anderer zu bereichern. Das bedingt jedoch, dass man sich selbst gut behandelt, sein eigenes Leben als lebenswert und wertvoll ansieht. Das widerspricht letztendlich dem Gedanken der Selbstaufopferung.
Heute also ein klares: Nein! Für den anderen!
Ich hoffe, meine Meinung war verständlich formuliert und Du kannst für Dich einen Mehrwert herauslesen.
Schönen Abend,
You are awesome