Gott hat viele Gesichter. Es führen viele Wege zu Gott. Keiner der Wege ist auserwählt. Keiner der einzig gültige für alle Menschen, Völker und Zeiten.Keiner von ihnen ist besser als der andere. Denn alle führen zu demselben einen Unerforschlichen, das die Religionen aller Zeiten und Völker meinen, wenn sie es auch mit verschiedenen Chiffren und Bildern begriffen und mit verschiedenen Namen benannt haben - dasselbe eine Unerforschliche, das über alles Erkennen und Begreifen ewig hinausliegt und nur dem religiösen Erleben ahnbar wird.Und weil alle Wege sich dem Göttlichen von einem anderen Ausgangspunkt nähern, eröffnet ein jeder eine andere Sicht. Denn auch ein und derselbe Berg ist keinem Beschauer allseitig sichtbar, und nicht zwei Menschen bietet er denselben, völlig gleichen Anblick dar. Seine Gestalt hat Milliarden Umrisse, sein Antlitz Milliarden Profile. Und dennoch ist kein Profil richtiger, kein Umriß gültiger als der andere.Alle Beschauer nehmen dieselbe Gegebenheit wahr und doch nicht dasselbe: denn ein jeder erblickt sie von seinem Standpunkt aus in anderer Perspektive. Und darum ist eines jeden Wirklichkeit genau so wirklich, genauso richtig wie die seines Nächsten und die seines Fernsten - "richtig" aber allein für ihn selbst. Und darum erfaßt die Schau des Göttlichen einer jeglichen Religion nicht weniger religiöse Wahrheit als jede andere. Aber niemals ergibt die Summe aller möglichen Aspekte die ganze Wirklichkeit, die dem Menschen gemäß seinen Bewußtseinsmöglichkeiten ewigunzugänglich bleiben muß, wenngleich sie in allem Jetzt und Hier beständig anwesend und wirklich ist - niemals ergibt die Summe aller Religionen, was über alles Erkennen hinausliegt. "Gott", sagte vor über 700 Jahren ein Deutscher, "hat der Menschen Heil nicht gebunden an eine sonderliche Weise." Diese Erkenntnis, dem östlichen Denken vertraut seit Buddha bis zu Radhakrishnan, hat im Abendland in Meister Eckhart und Jakob Böhme, in Lessing, Goethe und Nietzsche, Dilthey und Ortega y Gasset nur einsame Wissende gefunden, bis sie sich in der heutigen vergleichenden Religionswissenschaft Heimrecht erwarb. Sie bedeutet - von der Seite des Numinosen aus Das Göttliche spricht zu jedem in der Sprache, die er versteht. Aber sie bedeutet auch dies: In welcher Weise das Göttliche uns anspricht, in der werden wir wir selbst. Sie besagt - von der Seite des religiös erlebenden Subjekts aus -: Wie der Mensch dem Göttlichen begegnet, hängt davon ab, woher er kommt. Und wenn auch jeder einzelne einer Gemeinschaft nie ganz dasselbe schaut wie der neben ihm Stehende, so verbindet doch diese Gemeinschaft die gleiche Weise des Schauens, des Erlebens, des Fühlens, des Denkens. Und ihre Begegnung mit dem Heiligen vollzieht sich in derselben "sonderlichen Weise" ihres Welt- und Selbstverständnisses. Und sie bedeutet schließlich auch dies: Von dem unergreifliehen, unaussprechlichen Göttlichen zu sprechen vermag der Mensch nur in der Sprache seiner Welt, »immer ungemäß«, in den Bildern, Symbolen, Chiffren, die ihm aus der eigenen Vorstellungs- und Begriffswelt verfügbar sind. Darum enthält jedes Gottesbild beides, Gott und den Menschen, göttliche Wahrheit und das persönliche Selbstsein des von ihr Betroffenen, der sie sich formte nach seinem Bilde. Welche Vielfalt der Antlitze, die Gott dem Menschen hinhielt im zeitlichen Neben- und Nacheinander der Jahrtausende!