Wie kann ich einer Sekte entkommen?
Hallo!
Ich bin in einer konservativen und bibeltreuen Kirche aufgewachsen, die für das säkulare und aufgeklärte Deutschland eigentlich ziemlich untypisch ist. Es ist eine ungewöhnlich strenge christliche Sondergruppe, die beansprucht die einzige Wahrheit zu haben. "Weltliche" Medien, Tee, Kaffee, Schweinefleisch wurden untersagt und Liebesbeziehungen zu "Weltlichen" wurden verteufelt. Ich habe den totalitären Geist dieser Ideologie in mich aufgesogen. Später fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Nach dieser Art "geistiger Revolution" fühle ich mich zum religionsfreien Humanismus und Freidenkertum hingezogen.
Jetzt bin ich zwar glücklich, aber wenn ich zum Beispiel Kaffee trinke, überfällt mich manchmal innere Panik. Das gleiche kann passieren, wenn ich Fleisch esse, Musik höre und meiner Freundin näherkomme. Ich kann mir das nicht erklären. Obwohl ich mich von diesem Gedankengut verabschiedet habe und nicht daran glaube, ist mein Unterbewusstsein noch nicht davon gereinigt und es verfolgt mich. Was soll ich tun?
30 Antworten
Hey du!
Ich glaube, ich verstehe ein bisschen, was da passiert.
Ich wurde streng katholisch aufgezogen, und habe mich mit ziemlicher mentaler Gewalt von den Sünde-Hölle-Dämonen-Gequatsche befreien müssen. Das war ein sehr sehr langer Prozess, der langsam mit etwa 16 begonnen hat (Zweifel an der Bibel und der Kirche), und mit etwa 23, als ich mich bereits als radikalen Atheisten bezeichnet habe, hatte ich die letzten schlimmen Nachwirkungen, nämlich grundlose Panikattacken mit Erstickungsgefühlen und Herzrasen, die letztlich auf meine Angst vor dem Tod und der Hölle zurückzuführen waren (hat mich nochmal 3 Monate Nachdenken und Reden gekostet, um die Verbindung zu finden).
Danach war es aber gut. Heute bin ich glücklicher Agnostiker, doch natürlich ist alles, was ich von Kind auf gelernt hatte, immer noch in mir, und sei es nur als Erinnerung. Das werde ich niemals ganz los, muss auch nicht sein, wenn man gelernt hat, es anzuerkennen, ohne es zu verdrängen.
Bedenke, es ist das, womit du groß geworden bist, alles, was dein kindliches Weltbild ausgemacht hat, du hieltst das alles für wahr und gut. Das kriegt man nicht so einfach los. Es wird dich in der ein oder anderen Form immer begleiten. Verdräng es bloß nicht, sondern akzeptiere, dass es als Teil deiner Erinnerung immer ein Teil von dir sein wird. Sonst kommt es als solche versteckten Panikattacken zurück, wie bei mir.
Was kannst du tun?
Mir hat reden geholfen, reden, reden und nochmal reden mit Freunden. Nachdenken, über meine Ängste, was fürchte ich, wieso, muss ich das überhaupt fürchten, was ist das alles, was ist mit mir geschehen und wieso. Ich habe jetzt auch teilweise Theologie und Religionswissenschaft und Philosophie studiert, um all diese Mechanismen und Institutionen besser begreifen zu können.
Da du aber in einer Sekte gesteckt bist, rate ich dir, dir professionelle Hilfe zu suchen. Dein ganzes Welt- und Selbstbild ist in die Brüche gegangen, als du dich von der Sekte losgesagt hast. Sowas ist umfassender, als man glaubt. Du kannst dir durch psychologische Unterstützung helfen lassen, dein Selbst- und Weltbild wieder aufzubauen und die restlichen Ängste zu besiegen. Du kannst dich auch mal hier umschauen: http://www.sektenausstieg.net/
Ich wünsche dir viel Erfolg, gib nicht auf, und glaube nur das, was du glauben kannst und willst!
Finde die Antwort auch super. Und vor allem da sie auf Erfahrung basiert. DH!
Klasse Antwort. Meinen respekt. Ich denke auch, dass dieses Trauma mit Unterstützung verarbeitet werden sollte.
Du hast Dich ja schon ganz schön freigestrampelt und sicherlich wirkt z. Z. noch das andressierte Verhalten nach. Da Du dies aber erkennst, kannst Du das bestimmt auch noch ablegen...
Du wirst es besser, schneller lernen, je häufiger Du die Situationen sucht, in denen Du Dich noch unwohl fühlst :)) dann erhälst Du auch jedesmal die Belohnung ... es passiert nichts Schlimmes, wenn Du Kaffee trinkst &&&& so wird alles was Dich noch verunsichert sich normalisieren, weil die neue Erfahrung die eingebleuten Befürchtungen außer Kraft setzen werden...
wenn Du Unterstützung haben möchtest kannst Du auch Hilfe von einem Therapeuten in Anspruch nehmen oder in Deinem Wohnort nach einer Gruppe ehemaliger Sektenmitglieder schaun... vielleicht ist aber der Weg über eine philosophische Gesprächsgruppe für Dich das richtige...
viel Erfolg & alles Gute wünsch`ich Dir ;)h
habe zeitlich fast parallel meine Antwort geschrieben...die genau ds Gleiche sagt:-)
Du wirst es besser, schneller lernen, je häufiger Du die Situationen sucht, in denen Du Dich noch unwohl fühlst :)) dann erhälst Du auch jedesmal die Belohnung ... es passiert nichts Schlimmes, wenn Du Kaffee trinkst &&&& so wird alles was Dich noch verunsichert sich normalisieren, weil die neue Erfahrung die eingebleuten Befürchtungen außer Kraft setzen werden...
Genau das passiert bei der kognitiven Umstrukturierung beim Verhaltenstherapeuten...
DH ;) freut mich ...konnte das bisher nicht so ausdrücken...das passiert bei der kognitiven Umstrukturierung beim Verhaltenstherapeuten... danke habe gerad dazu gelernt ..
ich mochte früher nicht auf öffentlichen Versammlungen das Wort ergreifen :( bis ich mir gesagt habe auf jeder Versammlung mindestens einmal melden, nachfragen, erweiterte Aspekte zum Thema bringen und heut habe ich keine Probleme mehr damit vor großen Menschengruppen zu sprechen, denn man bekommt ja auch Zuspruch= Belohnung , konstruktive Kritik :)) von den andern Teilnehmern..
wünsche Dir noch einen schönen Abend m.l.G. ;)h.
Damit Mitleser keinen falschen Eindruck bekommen, muss zunächst festgestellt werden, dass es sich bei der Gruppe/ Sekte nicht um bibeltreue Christen handelt. Nach der Lehre der Bibel sind weder Medien noch Tee, Kaffee oder Schweinefleisch usw. verboten. Beispiel Schweinefleisch: http://www.bibelpraxis.de/index.php?article.1597
Vielleicht wäre es eine Möglichkeit, dich mal wirklich mit der Bibel zu beschäftigen, ohne die Sonderlehren der Sekte zu berücksichtigen. Also einfach studieren, was Gottes Wort lehrt (am Anfang das Johannes-Evangelium und danach den Römer-Brief), damit du feststellst, dass Gott ganz anders ist, als du ihn vielleicht bzw. wahrscheinlich bisher kennengelernt hast...
Mir geht das auch oft so, dass ich total erschrecke, obwohl ich WEIß, dass das nicht die Wahrheit ist und ich eigentlich eine andere Meinung habe. Dass die Welt auch noch viel mehr ist. Aber es wird mit in einen hineingebaut sozusagen. Es wird in von klein auf in einen hineingetrichtert und man kann es nur schwer wieder loswerden . Es braucht so lange, bis das Gehirn frei davon ist. Ich weiß auch nicht wie lange es dauert und ob es jemals vorbei geht.
Hallo kaktusfeld,
Ich kann mir das nicht erklären.
Das was du beschreibst (innere Panik beim Ausführen der Tätigkeiten, die früher als Verstoß gegen die Regeln der Sekte) ist eine Reaktion, die erlernt ist.
Zuersteinmal mußt du wissen, dass Bewertungen,Überzeugungen, Einstellungen in bestimmten Situationen, Gefühle auslösen. Das ist bei dir die innere Panik. Sie wird ausgelöst, durch das Ausführen der vormals verbotenen Handlung. Die Bewertungen laufen häufig automatisiert ab.
Das Muster dazu sieht so aus: Situation- Bewertung- Emotion- Verhalten (kann zum Beispiel das Unterlassen einer Handlung sein, damit Angst als Reaktion aufhört).
Die Bewertungsmuster werden erlernt und sie "brennen" sich sozusagen im Gehirn ein. Das passiert durch Sanktionen oder Androhung von Sanktionen,... Was im Kindesalter erlernt wird, ist hartnäckig.
Betroffene wundern sich über ihre Reaktionen, wie z. B.Angst, da ihre Vernunft sagt :" das ist ok. was ich jetzt tue".
So scheinbar auch in deinem Fall. Du weisst, dass es nichts verwerfliches ist, Kaffee zu trinken, jedoch läuft die erlernte Reaktion ab. Es dauert bis dein Gehirn umgelernt hat.
Ein Mittel mit dem man gut arbeiten könnte, ist die kognitive Umstrukturierung. Das kann man mit einem Verhaltenstherapeuten durchführen. Was bei dir schon einmal eine gute Grundlage ist, ist die Tatsache, dass die Bewertungsmuster und Ihre Entsteheung bekannt sind.
Nur grob: So kannst du (in absprache mit einem Thearpeuten) jedesmal wenn das Gefühl aufkommt, neue Bertungssätze aufsagen, zudem erlebst du, dass nichts passiert und so lermst du um... Es braucht vieler Wiederholungen der Handlung , um eine angemessene (ohne Panik) Reaktion zu erreichen.
Die Methode ist nur ein Vorschlag per Internet. Genauer muss natürlci der Psychotherapeut schauen.
Genau wie andere hier auch, rate ich dir auf jeden Fall zu einem Therapeuten zu gehen, eine Überweisung bekommst du vom Hausarzt oder Psychiater. Ich gehe davon aus, dass es bei dir kein Problem sein wird.
Du kannst probatorische Stunden absolvieren. Vielleicht gibt es auch einen Spezialisten, der sich mit Sektenaussteigern beschäftigt.
Du bist auf dem guten Weg, wieder ein glückliches Leben zu führen, da du reflektierst. das zeigt deine Frage hier.
Ich wünsche dir viel Kraft dabei!
Liebes kaktusfeld,
auch wenn andere Antworten auf persönlicher Ebene sicher einfühlsamer sind ist die Antwort von Gugu77 die lösungsorientierte. Diese "Panik", die Du bei bestimmten Dingen fühlst, sind konditionierte Verhaltens- und Bewertungsmuster.
Ein recht gutes Buch "für jederman" hat zu diesem Thema Dr. Doris Wolf unter dem Titel "Ängste verstehen und überwinden" herausgebracht. Ich lege Dir das Buch wirklich ans Herz, weil darin ganz genau erklärt wird, was Gugu Dir dort oben schon im Schnelldurchlauf erklären wollte (und auch super gemacht hat).
In dem Buch wird Dir zum einen erklärt, "warum" solche emotionalen Reaktionen bei bestimmten Handlungen entstehen können; damit ist schon mal die "Angst vor der Angst" weg und Du verstehst selber endlich, was in Dir vorgeht. Zum anderen werden sehr sinnvolle und einfache Lösungsmethoden und Ratschläge gegeben, um die Situation zu ändern und sich von belastenden Konditionierungen zu befreien.
Da Du keine ausgeprägt Phobie oder richtige Panik hast, bin ich mir sicher, dass Du Deine Problemsituationen auch ohne Therapeut in den Griff bekommst. Die Umstrukturierung kann kurz gelernt werden, dann sind es ein paar "Gedankentricks", die man immer wieder anwendet, und Du kannst Dich immer schneller und selbstsicherer von Deiner alten Verhaltensweise loslösen, ohne dass Dir schlechte Emotionen dabei aufstoßen.
Investiere Die paar Euro in so ein Buch und du tust Dir selbst einen riesen Gefallen, glaub mir ;-)
Ich wünsche Dir dabei viel Spaß und eine Menge Freude in Deinem neuen, freien Leben.
Liebe Grüße, Balu
Deine Antwort ist einfach super, ehrlich, reflektiert und trifft die Problematik absolut. Di sprichst aus Erfahrung - und nur die Erfahrung anderer Betroffener kann dem Fragesteller hier nun helfen, die Herkunft von Zweifeln, Ängsten, Schuldgefühlen oder anderen belastendenden und irritierenden Gedanken zu "orten" und richtig einzuschätzen. Dies ist überaus wichtig, um gut und gesund aus der Sache heraus zu kommen.
Deinen letzten Absatz halte ich für unglaublich wichtig, dies muss realisiert werden, es ist nicht zu unterschätzen. Ich hoffe, Deine Antwort wird noch vielen Leuten Mut machen, an einem Ausstieg zu arbeiten und nicht aufzugeben, auch nicht, wenns schwierig wird sie von "Nachwirkungen" eingeholt werden. DH!