Wie denken die Schachgroßmeister, wenn sie spielen?

10 Antworten

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Nein, so denken die nicht. Ich habe mal einen interessanten Film über die Wahrnehmung und das Denken von Schachgroßmeistern gesehen. Man hat ihre Augen mit Elektroden (oder so) verbunden, so dass man genau verfolgen konnte, wie sie gucken. Das Gleiche hat man auch mit schlechten Hobbyschachspielern gemacht.

Die Hobbyschachspieler begucken sich das ganze Feld und analysieren: Wenn Springer auf 2a, die Dame auf 5 b und der Turm auf 7 e stehen, dann mache ich folgendes. Upps...ich habe ja das Pferd vergessen. Oh hilfe...

Die Profis machen das nicht. Ihre Augen wandern auch nicht hin und her. Sie erfassen mögliche Züge mit einem einzigen Blick, nehmen die ganze Gestalt des Spiels wahr und entwickeln daraus ihre Züge.

Ich fand das damals sehr interessant.


Rudolf36  26.07.2020, 00:15

"damals": das war wohl während des Studiums, da hat man am ehesten Zeit und Gegner.

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Natürlich rechnen die auch Zugfolgen durch, es ist aber oft auch eine Mischung aus Berechnung und Erfahrung/Intuition. Erfahrung alleine hilft aber nicht, sonst müssten ja die 50-jährigen GMs besser als die 25-jährigen sein.

Das Gegenteil ist aber der Fall. Junge Leute sind oft ein klein wenig besser in den Berechnungen (ich merke das auch bei mir, ich habe in dem Bereich nachgelassen).

Natürlich hängt es auch vom Stellungstyp ab. Ein Figurenopfer sollte gut berechnet werden (sonst steht man nachher ohne Angriff, aber mit Minusfigur da). In manchen Stellungen geht es aber eher um positionelle Einschätzungen (und da hilft die Erfahrung durchaus ein Stück weit).


Rudolf36  26.07.2020, 00:26

"ich habe in dem Bereich nachgelassen" Ich auch. Am besten war ich als Student. Danach hatte ich keine Gegner mehr.

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Die Realität ist, dass GM recht wenig denken in einer Schachpartie- die meisten Antworten hier stimmen also nicht wirklich. Sie haben soviel Erfahrung, welches sie gesammelt haben, dass sie ein unfassbares Gefühl für das Spiel entwickelt haben. Eröffnungen bis zu einer Tiefe von den ersten 20-30 Zügen haben sie meistens schon verinnerlicht und denken keine Sekunde nach. Viele Züge machen sie aus dem Gefühl heraus ohne überhaupt Züge durchdenken zu müssen, da es für sie „natürlich“ oder „selbstverständlich“ ist den Zug zu spielen- selbst bei den Weltbesten Partien passiert das Regelmäßig. Sehr schönes Beispiel: https://m.youtube.com/watch?v=SMe-hvCwTRo

Anhand von Kasparov.

Natürlich kommt es zu den Stellungen wo die GM anfangen zu überlegen und Züge berechnen- vor allem in Classic Zeitkontrollen. Trotzdem begrenzt sich das erheblich- was man an Blitzpartien, die du alle im Internet von Carlsen über Nakamura, Svidler, Gustaffson etc. Sehen kannst.

Wirklich nötig ist es vielleicht bei 20% der Züge wo es einen Unterschied macht großartig zu überlegen oder nicht. Natürlich eine grobe Schätzung meiner Erfahrung.


OlliBjoern  23.07.2020, 15:39

Ok, da mag was dran sein. Aber ich denke schon, dass das, was man beobachten kann (dass die jungen GMs die 50-jährigen locker hinter sich lassen) durchaus mit der nachlassenden Berechnungskunst im Alter zu tun hat.

Würde es alleine an Erfahrung und Intuition liegen, gäbe es ja keine passende Erklärung für diese Beobachtung. Schach ist halt doch ein recht "konkretes" Spiel.

Carlsen ist Jahrgang 1990

Caruana ist Jahrgang 1992

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Invictus12  23.07.2020, 21:34
@OlliBjoern

Ich sehe jetzt kein Widerspruch in meiner Aussage. Selbstverständlich lässt der Elan im höheren Alter nach - Menschen können sich nicht mehr für einen längeren Zeitraum gut konzentrieren, Rechnen etc. Sie bauen überall ab. Ich habe nicht geschrieben, dass das Berechnen nicht wichtig ist, ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass GM deutlich weniger rechnen als viele Menschen glauben. Aber eine gute Ergänzung und Hinweis!

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Spitzenschachspieler sehen Muster bzw. Teilstellungen, deren Vor- und Nachteile sie kennen. Diese sind zu vermeiden oder anzustreben.

Das Prinzip wenden auch Blindspieler an. Meine Turnierspiele konnte ich noch Jahre später nachspielen, wobei ich mir nicht die einzelnen Figuren gemerkt habe, sondern eben diese Teilstellungen und deshalb nicht viele Einzelfiguren erinnern musste, sondern Blocks und ihre Wirkung.

Beispiel:

Die Rochadeecke: Das sind 2x3 (oder x4) Felder, meist mit 5 Figuren (König, Turm, 3 Bauern) besetzt.Ich muss mir nicht die Figuren merken, sondern sehe den Komplex mit seiner Wirkung (Stärke, Schwäche)

Von diesem Muster gibt es unzählige, angefangen in Eröffnungstheorien (Mittelfeld, Fianchetto, Springer,...) über die Fortsetzung je nach Lage über den Damenflügel, Zentrum, Königsflügel.

Überleitung zum Endspiel: Gleich- oder ungleich farbige Läufer, Türme vs. Leichtfiguren, Freibauern... Aus dieser Beurteilung folgt das Vorgehen (Ziele).

Hat man die Ziele, folgt das Durchdenken der nächsten Züge und das sind meist nur ein Bruchteil der möglichen Züge, weshalb "tiefer gedacht" werden kann.

Es sind also weder "keine Gedanken" oder "Intuition", sondern effiziente Muster aus Theorien, Analyse der gespielten Partien (des Gegners), eigene Zugfolgeentwicklung nach Studium eines Schachmusters, ..., die während der Partie den Schachspieler beschäftigen.

Ich zitiere https://fragen-raetsel-mysterien.ch/experimente-und-fakten-zum-thema-bewusstsein/#Experimente_zum_Bewusstsein_3.3

Viele der ganz grossen Schachspieler sagen, ein grosser Teil ihres Denkens laufe unbewusst ab. Es beruhe mehr auf Intuition und Bauchgefühl als auf bewusster Rechnerei. Der Grossmeister Capablanka z. B. sagte von sich: „Ich denke überhaupt nicht, ich weiss einfach, was ich spielen muss.“
Vom Schachweltmeister Michael Tal gibt es hierzu eine besonders schöne Anekdote. Tal musste bei einem wichtigen Schachspiel plötzlich an ein Lied denken, bei dem ein Nilpferd aus dem Sumpf gezogen wird. Und er dachte die ganze Zeit darüber nach, wie er das Nilpferd aus dem Sumpf ziehen würde. Plötzlich fiel ihm ein, dass er ja mitten in einem Schachspiel war und dass ihm die Zeit ausging und er machte irgendeinen Zug. Und am nächsten Tag hiess es dann in der Zeitung: „Michael Tal hat nach 40-minütigem Überlegen ein phantastisch durchdachtes und geniales Opfer gebracht und in glänzendem Stil gewonnen.“