Welche Rolle spielen Religion und Tradition (Indien)?

2 Antworten

Geht es ums Heiraten, ist das indische Kastensystem noch fest in den Köpfen verankert. Es gilt das Gebot, dass Mädchen und Jungen innerhalb der eigenen Kaste und Unterkaste heiraten sollen. Selbst hochgebildete Menschen, die ein liberales, aufgeklärtes, an westlichen Idealen ausgerichtetes Leben führen, kapitulieren vor der Hartnäckigkeit des Kastengedächtnisses, wenn es zur Heirat kommt. Ehen von Partnern, die unterschiedlichen Religionen oder Kasten angehören oder aus unterschiedlichen Regionen stammen, sind weiter selten. 

https://www.welt-sichten.org/artikel/28519

https://www.youtube.com/watch?v=hDonVDFwpwg

https://www.indien-discover.de/ueber-indien/landesinformationen/tradition.html

Beide sind dort im Alltag sehr gegenwärtig.


wrkp1  05.02.2022, 16:39

Indien als alte Kultur ist sehr spirituell, hat viele Techniken zur Beeinflussung des Bewußtseins entwickelt (z. B. über den Atem, zahlreiche Arten von Joga, Tantra) und daher viele "Gurus" (spirituelle Führer), aber leider auch Scharla-tane. Mich faszinierte in Südindien die reiche Kunst an den Tempeln, in Nord- indien die muslimische Kunst vor allem in Rajastan; das Taj Mahal ist wohl das schönste Bauwerk dieser Erde. Ich habe viele Reisen gemacht und war einmal auch in der Chefren-Pyramide in Ägypten. Indische Tempel haben ih-re Schauseite außen, weil dort das Volk stand, die Opfer auf dem Altar ver-brannt wurden, und nur die Priester zur dunklen cella mit der Götterfigur Zu-tritt hatten. Indien ist voller Religion, die dort traditionell ist. Ich reiste mal 5 Wochen auf eigene Faust, besuchte verschiedene Tempel und auch pujas (Gottesdienste).

In Indien ist seit Jahrtausenden das Leid allgegenwärtig. Daher versuchen indische Religionen den Menschen einen Weg zu zeigen, wie sie dem Leid entkommen können. Das ist dort auch aktuell, weil man von der ewigen Wiederkehr alles Gleichen überzeugt ist - für mich eine schreckliche Vor-stellung: ein Leben ist schon genug (ich bin 83). Weil die Inder vom Weltge-setz der Kausalität überzeugt sind, versuchen sie, im Leben viel gutes Karma anzuhäufen, um aus dem ewigen Kreislauf ins Nirwana (Nichts) entfliehen zu können. Wer schlechtes Karma hat, wird bei seiner Wiederverkörperung vielleicht eine Ratte oder Ameise. Darum lassen die Angehörigen der Jaina-Religion vor sich den Weg freiwedeln, damit sie ja keine Ameise zertreten; es könnte ja ein früherer Maharadscha sein, der schlechtes Karma aufgehäuft hatte. Man darf dort nicht einmal nach einem frechen Affen, der einem die Erdnüsse klaute, schlagen. Weil jeder für sein Karma selbst verantwortlich ist, hat der Gedanke der Solidarität, wie ihn der demokratische Sozialismus entwickelte, kaum eine Chance. Wenn überhaupt, wird nur die eigene Glau-bensrichtung, Partei, Ausbildungsstätte usw. gefördert. Dazu tritt das für Westler schreckliche Kastenwesen: es gibt 4 Hauptkasten mit etwa 3000 Unterkasten. Heirat und Beruf werden davon bestimmt, und wer wegen einer Mischehe keiner Kaste angehört, ist ein Paria, ein völlig Rechtloser. Gandhi wollte das ändern, konnte es aber nicht wegen des indischen Konservativis-mus vor allem der Hindu-Party. Die oberste Kaste sind die Brahmanen, die alle Berufe ausüben dürfen, die anderen 3 Kasten haben ihnen zu dienen: die Krieger (zu denen auch die Politiker gehören), die Kaufleute und die unterste Kaste, die Shudras, die Diener aller. Man kann seiner Kaste nicht entfliehen.

Leider muß man als Fremder, der z. B. einen Nachtzug benutzt, darauf ach-ten, nicht bestohlen zu werden. Man kettet daher sein Besitztum an. Am be-sten ist dort noch das Fliegen. Als Fremder, der in Dollar zahlt, bekommt am ehesten ein Ticket, während die Inder warten müssen. Mit der Bahn, die älter als unsere ältesten Museumsstücke war, brauchte ich für 500 km 18 Stun- den. Meine weiße Kleidung benötigte hinterher das Nach-Teeren (damit keine weißen Flecken zu sehen sind). Durch die Fenster der Busse werfen die Inder Taschentücher usw., um Plätze zu besetzen. Ich hielt mich nicht dran und wurde böse angeschaut. Das passierte mir auch, als ich im Süden eine Mo-schee besuchen wollte. Ich wurde einfach vertrieben, weil man mich für ei-nen Hindu hielt. Zwischen diesen beiden Gemeinschaften gibt es viele Aus-einandersetzungen, die schon nach der Befreiung Indiens von der britischen Kolonialherrschaft anfingen.

Zum Schluß noch 2 stories: in Kovalam Beach im Süden Keralas bewohnte ein Guru ein Schlößchen für 1000 Rupies am Tag. Ich wollte als angeblicher "Journalist aus München" ein Interview mit ihm machen, aber sein Sekretär lehnte das ab und sagte: no publicity, no fotos - und das Interview war been-det. Der Guru verpraßte nämlich im Süden das Geld, das dumme Europäer, die in seinem ashram im Staat Gujarat (NW-Indien) schufteten, für ihn ver-dienten. Einmal saß ich beim Barbier, um mich rasieren zu lassen, da mein Rasierapparat bei der Spannung von 290 Volt (!) den Geist aufgegeben hat-te. Ich kam mit ihm ins Gespräch über einen stadtbekannten Drogenhändler. Man konnte dort grass (Marihuana) und brown sugar (Heroin) auf der Straße kaufen. Da lachte mein Nachbar und fragte mich, ob ich den Betreffenden kenne. Ich verneinte und er sagte: "Das bin ich." Ich beschimpfte ihn als ge-wissenlos usw., aber er belehrte mich, dass er den Lebensunterhalt für -zig Angehörige seiner Großfamilie verdiene. Sein tollstes Stück lieferte er ab, als ihn bereits die Polizei jagte. Er floh ins Meer und leerte dort seine Taschen - und niemand konnte ihm etwas beweisen. Damit will ich meinen Bericht über Indien schließen, wo sogar die Götter in den Sagen einander betrügen. Für mich war es eine der interessantesten Reisen meines Lebens. Ich paßte mich dem indischen Lebensstil an - aber ich kam mit 2900 Dollars dorthin.

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