Was ist Identitätspolitik?

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Identitätspolitik

Definition: Was ist "Identitätspolitik"?

Die Identitätspolitik geht von der Identität von Einzelnen und Gruppen aus. Mit ihrer Hilfe wehren und befreien sich diskriminierte Gruppen, etwa Frauen, Homosexuelle, Vegetarier und Veganer, People of Color (PoC), Ureinwohner, Obdachlose und Sexarbeiter. Es geht insgesamt um sexuelle, ethnische, politische, kulturelle, weltanschauliche, altersbezogene, soziale oder berufliche Merkmale bzw. Zugehörigkeiten.

https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/identitaetspolitik-123136

Wer sind wir – und wenn ja, wie viele ?

Was war schuld am Wahlsieg Donald Trumps? Was hat die USA zerrissen, und was droht jetzt auch Europa zu spalten? Ein wachsender Chor von Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und Politiker*innen (Anm. d. Red.: Normalerweise gendert Christ&Welt Texte nicht. Hier machen wir aufgrund des Themas eine Ausnahme) schiebt die Schuld auf die sogenannte Identitätspolitik, also das Konzept, gesellschaftliche Gruppen so individuell wie möglich nach ihren Bedürfnissen anzusprechen – Schwarze, Latinos, Schwule und Lesben oder Transpersonen. Der US-Soziologe Mark Lilla sah hier den entscheidenden Fehler der Wahlkampagne von Hillary Clinton: "Wenn man schon Gruppen anspricht, sollte man alle Gruppen ansprechen. Wenn man es nicht tut, werden die, die ausgelassen bleiben, das bemerken und sich ausgeschlossen fühlen." Das Ergebnis sei eine von Misstrauen tief zerfurchte Öffentlichkeit, in der niemand mehr miteinander rede, weil die Demokraten sich bevorzugt um Minderheiten kümmerten anstatt um alle Bürger – und darüber die weiße Arbeiterschicht vergaßen.

Nach den Erfolgen der AfD wächst auch in Deutschland die Kritik an der Identitätspolitik: Überall nur noch Gendersternchen, Unisex-Toiletten, Barrierefreiheit, schimpfen Kritiker*innen, und bei jedem Wort müsse man sich vor einer radikalegalitären Sprachpolizei hüten, die mit überzogenen Empfindlichkeiten die Meinungsfreiheit bedroht! Von einem neuen "Stammesdenken" war in der ZEIT (31/2019) die Rede, und der Deutschlandfunk hat eine "Empörungs-Hysterie" von "aufwertungsbedürftigen Minderheiten" ausgemacht. Weit bis ins linke Spektrum hinein bohrt sich die Verachtung der Identität als politischer Kategorie.

Die Begründung lautet immer ähnlich: Wer Diskriminierungserfahrungen als Argument nutze und zum Beispiel Wert auf politisch korrekte Sprache lege, denke illiberal und spalte die Gesellschaft – weil er die Gefühle von Minderheiten über die Interessen der Mehrheit stelle. Na und? Was ist daran eigentlich so schlimm? Es ist

höchste Zeit, diese Empfindlichkeit zu verteidigen. Denn Political Correctness fordert doch eigentlich nur dies vom Mitmenschen: Empathie, Respekt, Rücksichtnahme – oder, in einem Wort: Anstand. Ein bürgerlich konnotierter Begriff, der gerade Liberalkonservativen, die die Ablehnung der Identitätspolitik in die geistige Bequemlichkeit getrieben hat, doch angeblich eine feste Größe ist. Anständig miteinander umzugehen bedeutet auch, Verständnis für sein Gegenüber zu entwickeln oder es zumindest zu versuchen. Das setzt voraus, zuzuhören. Aber dieses Einfach-mal-still-Sein scheint vielen schwerzufallen.

Die Kämpfer gegen vermeintliche Sprechverbote verkennen: Nur, weil man alles sagen darf, muss man doch längst nicht alles sagen. Es macht eine Kolumne in der Welt kein bisschen weniger geschliffen, die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli nicht "Göre mit arabischen Wurzeln" zu nennen. Ebenso unnötig ist es – so geschehen seitens mehrerer Journalisten –, sich über Professx Lann Hornscheidts Äußeres zu mokieren, um sich ja nicht ernsthaft mit Hornscheidts Vorschlägen zu einer geschlechterneutralen Anrede auseinandersetzen zu müssen, die auch intersexuelle Personen einschlösse. Um Gottes willen, nachher lernte man noch etwas Neues!

Wann sind wir eigentlich so denkfaul geworden? Was ist das Problem daran, einmal in sich zu gehen und sich in aller Ruhe ein paar Fragen zu stellen: Verliere ich kostbare Lebenszeit, wenn ich ein kleines Sternchen in ein Wort setze? Wohl kaum,

und das beliebte Argument, dies störe den Lesefluss, ist schwer ernst zu nehmen mit Blick auf eine Sprache, über deren Komplikationsfetisch ganze Bestseller geschrieben wurden. Warum sollte es mich in irgendeiner Weise einschränken, eine andere Person so zu bezeichnen, wie es ihr wichtig ist – zum Beispiel "Person of color" anstatt "Schwarze" –, anstatt ihr im Namen eines zweifelhaften Freiheitsbegriffs Begriffe überzustülpen, von denen ich weiß, dass sie sie verletzen? Ist es nicht selbsterklärend, dass die Deutungshoheit über solche Situationen bei der Person liegen sollte, die von Rassismus betroffen ist – und nicht bei der, die das Glück hat, noch nie wegen ihrer Hautfarbe oder Religion bedroht worden zu sein?

Was geht es mich an, was für Geschlechtsorgane der Mensch in der Toilettenkabine nebenan hat – und warum müssen Sanitäranlagen überhaupt noch nach Geschlechtern sortiert werden? In Zügen der Deutschen Bahn benutzen schließlich seit jeher alle ein Unisex-Klo, niemand wird ausgegrenzt, und bisher ist nicht bekannt, dass dieser Umstand zu Verknotungen im sexuellen Selbstverständnis der Reisenden geführt hätte.

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