Was ist die Katharsis im Zusammenhang mit Aristoteles?

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Im Zusammenhang mit Literatur gibt es von Aristoteles vor allem eine wichtige knappe Bemerkung zu Katharsis (griechisch: κάθαρσις) in einer Defintion der Tragödie im 6. Kapitel seiner Poetik (ein Werk mit seiner Theorie der Dichtung).

Die Auffassungen dazu sind unterschiedlich, was auch in der Übersetzung der Textstelle zum Ausdruck kommt.

Am einleuchtendsten ist meines Erachtens, die Katharsis hierbei als eine Reinigung der Leidenschaften zu verstehen, die eine sowohl ethische als auch intelektuelle Läuterung ist und zu einer verbesserten Gefühlskultur beiträgt.

In der antiken Tragödie geschieht ein schreckliches Unglück (oder geschieht beinahe), das eine Person betrifft, die weder ganz schlecht noch ganz vortrefflich ist. Es beruht auf einem Fehler (griechisch: ἁμαρτία [hamartia]) dieser Person, der mit ihrem Charakter (Mangel an irgendeiner Charaktertugend, wodurch eine Anfälligkeit für falsches Verhalten besteht) und einer bestimmten Situation zusammenhängt. Die Einstellung der Person bei ihrem falschen Verhalten ist auch durch unangemessene Leidenschaften gekennzeichent. Das Ausmaß des Unglücks (oder beinahe erlittenen Unglücks) ist im Verhältnis zum Fehler unverhältnismäßig groß. Das Publikum kann sich mit Erkennen und Fühlen in die Personen hineinversetzen (Mitleid und Furcht fördern dies). Die Wirkung kann sein, ein besseres Gespür für angemessene Leidenschaften zu entwickeln.

Die Reinigung (Katharsis) soll die Wirkung haben, (tragische) Fehler/Verfehlungen, wie sie in den Tragödien thematisiert werden, möglichst zu vermeiden.

Aristoteles, Poetik (griechisch: Περὶ ποιητικῆς [Peri poietikes]; Über Dichtkunst; lateinisch: De arte poetica) 6, 1449 b 24 – 28

ἔστιν οὖν τραγῳδία μίμησις πράξεως σπουδαίας καὶ τελείας μέγεθος ἐχούσης, ἡδυσμένῳ λόγῳ χωρὶς ἑκάστῳ τῶν εἰδῶν ἐν τοῖς μορίοις, δρώντων καὶ οὐ δι' ἀπαγγελίας, δι' ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν.

Aristoteles, Poetik : Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Bibliografisch ergänzte Ausgabe 2022. Ditzingen : Reclam, 2022 (Reclams Universal-Bibliothek ; Nr. 7828), S. 19:

„Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schauder hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“

Aristoteles, Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Berlin : Akademie-Verlag, 2011 (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung. Begründet von Ernst Grumach, herausgegeben von Hellmut Flashar ; Band 5), S. 9:

„Die Tragödie ist also eine Nachahmung einer bedeutenden Handlung, die vollständig ist und eine gewisse Größe hat. In ihrer kunstgemäß geformten Sprache setzt sie die einzelnen Medien in ihren Teilen je für sich ein, lässt die Handelnden selbst auftreten und stellt nicht in Form eines Berichts geschehene Handlung dar. Durch Mitleid und Furcht bewirkt sie eine Reinigung eben dieser Gefühle.“

Martin Hose, Aristoteles, Poetik. Band 1: Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar : mit einem Anhang: Texte zur aristotelischen Literaturtheorie. Berlin : De Gruyter, 2023 (Sammlung wissenschaftlicher Kommentare), S. 113:

„Es ist demnach die Tragödie die Nachahmung einer ernsten und abgeschlossenen Handlung von einer bestimmten Größe durch anziehend gestaltete Sprache, wobei jede einzelne der Formen anziehender Gestaltung getrennt in den Teilen der Tragödie erscheint, (die Nachahmung) in verkörpernder Darstellung und nicht durch Bericht,

*die durch Mitleid und Furcht eine Reinigung derartiger Affekte bewirkt.*

*die durch Jammer und Schauder eine Reinigung von derartigen Affekten bewirkt.*“

Im griechischen Text kann der Genitiv τῶν τοιούτων παθημάτων grammatisch unterschiedlich gedeutet werden.

a)     Genitivus separativus (Genitiv der Trennung): Reinigung von solchen Leidenschaften

b)     Genitivus obiectivus (das Wort im Genitiv ist Objekt der Handlung): Reinigung solcher Leidenschaftten

c)     Genitivus subiectivus (das Wort im Genitiv ist Subjekt der Handlung): Reinigung solcher Leidenschaften = Reinigung durch solche Leidenschaften (von den Leidenschaften ausgehende Reinigung)

Gegen eine Deutung von Trennung (Reinigung von solchen Leidenschaften) als die gedachte Wirkung spricht, dass Aristoteles in seiner Ethik solche Leidenschaften wie Mitleid (griechisch: ἔλεος [eleos]) und Furcht (griechisch: φόβος phobos]) nicht an sich für schlecht, schädlich und ganz unpassend hält. Die Beseitigung/Entfernung solcher Gefühle Gefühle/Emotionen/Leidenschaften/Affekte kann für ihn nicht als ertrebenswertes Ziel gedacht sein. Eine beliebige Entladung von Gefühlserregungen als eine Entastung oder Triebabfuhr bietet keine sinnvolle Erklärung, warum in der Tragödie für Aristoteles seine Person so wichtig ist, die zwischen Schlechtigkeit und vollendeter Vortrefflichkeit steht und in Verbindung mit ihrem Charakter einen Gehler begeht.

Gefühle/Emotionen/Leidenschaften/Affekte als Gegenstand der Reinigung (Genitivus subiectivus; Reinigung solcher Leidenschaften) sind dagegen in diesem Zusammenhang sinnvoll. Mitleid und Furcht (Jammer und Schauder als elementare, direkte, ungebrochene natürliche Erregungszustände sind weniger passende Ausdrücke, weil auch Denken beteiligt ist, die gemeinten Gefühle also eine kognitive/rationale Seite haben) können zu einem Bemühen, Fehler zu vermeiden, beitragen..

Eine von den Leidenschaften ausgehende Reinigung (Genitivus subiectivus) ist schlecht nachvollziehbar, weil dann eine Angabe zum Gegenstand der Reinigung fehlt.


petermaier11  18.02.2023, 13:37

Sehr interessant. Dann verwendet Wikipedia also die falsche Variante (Genitivus separativus) für die Definition?

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Albrecht  18.02.2023, 15:35
@petermaier11

In dem Wikipedia-Artikel ( https://de.wikipedia.org/wiki/Katharsis_(Literatur) ) steht in der derzeitigen Fassung eine sachlich weniger plausible Deutung.

In der Fachwissenschaft sind verschiedene Auffassungen vertreten worden.

Die Deutung als Genitivus obiectivus in dem Artikel gar nicht zu berücksichtigen, ist ein erheblicher Mangel. Es könnten ja die verschiedenen Auffassungen und ihre Begründungen angegeben werden.

Auf der Diskussionsseite zum Artikel vertritt jemand die Deutung als Genitivus obiectivus.

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petermaier11  18.02.2023, 15:47
@Albrecht

Ich hatte von den anderen Deutungen jedenfalls noch nicht gehört. Danke dafür.

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