Was bedeutet es, eine unbewegliche Seele zu haben?

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Unbeweglich kann bedeuten, sich nicht zu bewegen, sich nicht bewegend zu sein oder nicht bewegbar zu sein, nicht bewegt werden zu können.

Die Bedeutung der Äußerung (in der Erzählung vom ehemaligen Lehrer Julius Caesar gegenüber dem Lehrer, der Hauptperson ist, als Deutung der Gegenwart vorgetragen) ergibt sich aus dem Buch, in dem sie steht.

Eine Redewendung mit einem besonderen philosophischen Hintergrund, aus dem erst die Aussage entschlüsselt werden kann, liegt nicht vor.

Einige Philosophen zur Seele im Gegenteil dargelegt, sie sei sich selbst bewegend. Platon Phaidros 245 c – 246 versucht einen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele zu erbringen, indem er erklärt, die Funktion der Seele bestehe darin, Ursprung der Bewegung zu sein. Als Selbstbewegtes sei die Seele Bestimmende der Bewegung und deshalb unvergänglich, sonst käme sie zum Stillstand.

Aristoteles, Περὶ ψυχῆς (Über die Seele; lateinisch: De anima) Α 4, 408 a - b versteht die Seele als Bewegungsursprung. Sie bewegt sich selbst, wird aber nicht selbst bewegt.

Die Seele wird also als eigenbewegt gedeutet, unbeweglich ist sie nur in Bezug darauf, nicht fremdbewegt zu sein.

Psychologie/Seelenlehre kann die Äußerung erklären: Eine Seele ist unbeweglich, wenn keine Gefühlsregungen/Emotionen vorkommen.

Das Wort Emotion enthält in der Wortherkunft den Begriff der Bewegung (lateinisch e/ex = aus, heraus, movere = bewegen; moveri = bewegt werden, sich bewegen; motus = bewegt).

Bei Ödön von Horváth, Jugend ohne Gott, ist die unbewegliche Seele mit zwei wichtigen Motiven verbunden, dem der Augen und dem der Fische. Diese sind in dem Roman Symbole für etwas.

Wer eine unbewegliche Seele hat, ist ohne Gefühlsregungen, emotionslos, nimmt emotional/gefühlsmäßig keinen Anteil. Es fehlt Einfühlungsvermögen (Empathie). Jemand ist bloß beobachtend, empfindet keine Gefühle. Die Person ist seelisch, in ihrem Gefühlsleben, starr und kühl/kalt.

Ödön von Horváth, Jugend ohne Gott
Das Zeitalter der Fische
„Wir sahen uns an, Wir tranken.
«Sie glauben also, daß einzelne von denen heimlich lesen?«
»Ich weiß es. Bei jener Dame ist manchmal ein direktes Kränzchen, sie ist oft schon ganz außer sich. Die Buben lesen alles. Aber sie lesen nur, um spötteln zu können. Sie leben in einem Paradies der Dummheit, und ihr Ideal ist der Hohn. Es kommen kalte Zeiten, das Zeitalter der Fische.«
»Der Fische?«
»Ich bin zwar nur ein Amateurastrolog, aber die Erde dreht sich in das Zeichen der Fische hinein. Da wird die Seele des Menschen unbeweglich wie das Antlitz eines Fisches.« –"

Der Tormann
„Und wie ich so dachte, spürte ich, daß mich außer dem N noch einer anstarrte. Es war der T.
Er lächelte leise, überlegen und spöttisch.
Hat er meine Gedanken erraten?
Er lächelte noch immer, seltsam starr.
Zwei helle runde Augen schauen mich an. Ohne Schimmer, ohne Glanz.
Ein Fisch?“

Er beißt nicht an
„«Wissen Sie denn nicht, Herr Lehrer, was Sie in der Schule für einen Spitznamen haben? Haben Sie ihn nie gehört? Sie heißen der Fisch.»
Er nickt mir lächelnd zu.
«Ja, Herr Lehrer, weil Sie nämlich immer so ein unbewegliches Gesicht haben. Man weiß nie, was Sie denken und ob Sie sich überhaupt um einen kümmern. Wir sagen immer, der Herr Lehrer beobachtet nur, da könnt zum Beispiel jemand auf der Straße überfahren worden sein, er würde nur beobachten, wie der Überfahrene daliegt, nur damit ers genau weiß, und er tat nichts dabei empfinden, auch wenn der draufging –»“

Ödön von Horvath, Jugend ohne Gott. Von Klaus Kastberger und Evelyne Polt-Heinzl . Stuttgart : Reclam, 2010 (Reclams Universal-Bibliothek : Erläuterungen und Dokumente ; Nr. 16072), S. 20:
„Wie die Fische die Sintflut überleben, so empfängt der Christ im Taufwasser, durch Christus neues (ewiges) leben. Entgegen dieser Tradition interpretiert Horváth den Fisch als Chiffre für Gefühlskälte und Zynismus.“

Ödön von Horváth, Jugend ohne Gott : Interpretation: Von Ulrich Schlemmer. 2., überarbeitete und korrigierte Auflage in der neuen Rechtschreibung. München : Oldenbourg, 1997 (Oldenbourg-Interpretationen ; Band 65), S. 46:
„T ist ein Stiller Junge, der im Klassenverband eher untergeht und eigentlich nur dem Lehrer auffällt. T ist höflich und sein auffälligstes Merkmal ist sein seltsam starres Lächeln und sein kalter, beobachtender Blick; wiederholt nennt der Lehrer seine runden, glanzlosen Augen. Auch scheinen ihm jegliche Gefühlsregungen zu fehlen.“

S 68: „Die Fischaugen werden im Roman zum Indiz für den Mörder. Sie zeigen wie ein Seelenspiegel zugleich die Seelenlage der heranwachsenden Generation, die geprägt ist von Gefühllosigkeit und Kälte, spöttischer Überheblichkeit und emotionaler Teilnahmslosigkeit. Julius Caesar drückt dies im Motiv des Zeitalters der Fische aus: Da wird die Seele unbeweglich wie das Antlitz eines Fisches […].“


Albrecht  10.02.2012, 06:11

S. 69: Der Fisch hat als Symbol göttlichen oder dämonischen Charakter, verweist auf Leben oder Tod, und ist im Christentum auch Zeichen für den Heilsbringer. Im Roman T als der Fisch nur die eine, dämonische Seele. Er ist ja auch Todbringer oder tritt im Zusammenhang mit dem Tod auf. Sein Wesen besteht aus Gefühlskälte, geringem sozialen Kontakt, Untersuchungen ohne echtes Interesse oder eine irgendwie erkennbare Anteilnahme an den Dingen oder Vorgängen, die er beobachtet. Er handelt bedenkenlos und im Grunde amoralisch, eine Haltung, die schließlich im Mord an N gipfelt, weil er einmal sehen wollte, wie ein Mensch stirbt.

Das, was der Fisch symbolisiert, überträgt Julius Caesar – als Amateurastrologe, wie er sich ausdrückt - auf eine ganze Generation. Und so prophezeit er mit dem Zeitalter der Fische zugleich kalte Zeiten. Er sieht eine neue Generation heranwachsen, deren einzige Ideale Hohn und Spott sind. Das Zeitalter der Fische wird dadurch auch zum Symbol für eine nationalsozialistische Ära. Die mit dem Zeitalter der Fische verbundene Kälte taucht als Motiv auch an anderen Stellen des Romans auf. Kälte steht für die seelische Erstarrung des Menschen, wie sich Julius Caesar ausdrückt, und sie steht im Zusammenhang mit den Schuldgefühlen des Lehrers. Kälte symbolisiert im Roman aber auch eine Bedrohung.“

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Das ist eine Wendung, die schon in der Bibel benutzt wurde. Sie drückt eine positive Eigenschaft aus, nämlich standhaft zu sein bzw. zu bleiben, nach festen Grundsätzen zu leben und nicht wankelmütig zu sein.
Heute würde man eher von Charakterstärke sprechen, dass jemand feste Grundsätze hat , nicht leicht zu manipulieren ist und weiß, was er will.

Die Redewendung hat also nichts mit "seelenlos" im Sinne von "emotionslos" oder "gefühlskalt" zu tun oder dass jemand unflexibel ist, wie man vielleicht denken könnte.


generalgo 
Beitragsersteller
 09.02.2012, 19:03

Doch schon. Lesen Sie mal Ödön von Horvath's -Jugend ohne Gott... das zweitere stimmt. Danke trotzdem.

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merrypotter  11.02.2012, 21:19
@generalgo

Dann bewegen wir uns gnadenlos auf dem Gebiet der Interpretation. Auch Autoren interpretieren andere Autoren!

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Ich nehme mal an, dass diese Aussage eine missverständliche Herleitung aus dem Gottesbegriff des Aristoteles ist, den später Thomas von Aquin in seinem Gottesbeweis aufgegriffen hat: Gott als der UNBEWEGTE (nicht unbewegLICHE) Beweger. Wenn unsere Seele als Teil, als Atem Gottes betrachtet wird, könnte man versucht sein, ihr auch die Eigenschaft eines UNBEWEGTEN Bewegers zuzuschreiben. Seele als Geist (was nicht von allen Philosophen gleichgesetzt wird) wird dann als das letztlich Bewegende angesehen.

Man ist dann wie man ist - nur mit einem gewaltigen Berg an Verantwortung. Diese Auffassung lässt nicht zu, Fehlhandlungen auf das soziale Umfeld abzuschieben, denn die Seele allein trägt die Verantwortung. Diese Vorstellung führt zu einer Einstellung, wie Luther sie hatte, dass man sich durch und durch SCHULDBELADEN fühlt, und nur noch durch die GNADE des letzten unbewegten Bewegers, nämlich Gott, davon freikommt. Für mich wäre das eine Horrorvorstellung.


generalgo 
Beitragsersteller
 09.02.2012, 19:02

Wenn ich unbewegliche Seele schreibe, dann meine ich das auch so. Nicht unbewegte. Deshalb werde ich den 2. Teil ihrer Antwort nicht lesen.

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Nie gehört, dass das jemand gesagt hat, aber Seele steht für Charakter und Gefühle und unbeweglich entweder für fest/gefestigt oder für stur/unnachgiebig.

Ich hab das auch noch nie gehört aber die seele steht ja meist für gefühl und empfindung...dewegen heißt das wahrscheinlich dass diejenigen "kalt " sind und keine gütigen gefühle wie mitleid oder so kennen...(die passage ist doch negativ gemeint, oder?) auch der fisch verändert sein aussehen ja bei absolut nichts (also wenn er getötet wird, angst usw.). der vergleich zu diesem tier soll vielleicht eine extreme Empfindunsunfähigkeit, Starrheit verdeutlichen. mich würde auch interessieren auf wen sich das bezieht ^^