Stoa zum Freitod - Senecas Ansicht?

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Stoische Philosophen haben einen »Freitod« als freiwillige, sorgfältig überlegte und abgewogene Entscheidung zur Selbsttötung (Suizid) mit ihrer philosophischen Lehre für vereinbar gehalten. Der »Freitod« steht also nicht unbedingt in Widerspruch zur Stoa.

Die Stoiker haben Selbsttötung nicht auf jeden Fall und unbedingt abgelehnt. Da sie die Welt für vernunftgeleitet hielten, ist eine Begründung, aus ihr zu verschwinden, für sie nicht einfach gewesen. Außerdem ist die gleichzeitige Annahme eines als Notwendigkeit/Schicksal geschehenden Verlauf anzunehmen und einer Freiheit des Denkens, mit der Vorstellungen eine Zustimmung erteilt werden kann oder nicht, nichts logisch widerspruchslos Zusammenpassendes gewesen.

Vereinbar wurde für die Stoiker die Wahl einer Selbsttötung durch die Beurteilung, der Tod an sich sei etwas ethisch Neutrales, insofern in der Güterlehre unter ethischem Gesichtspunkt etwas Gleichgültiges/Infifferentes (griechisch: ἀδιάφον/lateinisch: indifferens). Die körperliche Existenz war nach ihrer Auffassung nichts, dessen Aufrechterhaltung unter allen Umständen anzustreben war. 

stoische Ethik allgemein

Die stoische Ethik vertrat die Lehre, in Übereinstimmung mit der Natur (griechisch: φύσις; lateinisch: natura) zu leben. Eine Grundbestrebung in der Welt ist die Oikeiosis (griechisch: οἰκείωσις; „Einhausung“; „Aneignung“; „Zueignung“; lateinisch gibt es keine völlige sprachliche Entsprechung, Cicero übersetzt mit commendatio und conciliatio, Seneca verwendet neben commendatio die Begriffe amor sui und conservatio sui). Jedem Lebewesen geht es um den spezifischen Bestand seines eigenen Seins, Nützliches/Förderliches/Zuträgliches wird angestrebt, Schädliches/Abträgliches gemieden. Ausgehend von der Selbstzugewandtheit bezieht sich die Zuwendung nicht nur auf das eigene Selbst, sondern auch auf die anderen, verbindet schließlich die ganze Menschheit.

Der menschliche Geist (griechisch: λόγος und νοῦς; lateinisch: animus) wird als Teil einer göttlichen, den Kosmos lenkenden Allvernunft, eines ihn erfüllenden Logos (griechisch: λόγος; lateinisch: ratio) verstanden. Gemäß der Natur leben bedeutet gemäß dieser Vernunft leben (lateinisch: secundum rationem vivere). Der Mensch soll also in Einklang/Übereinstimmung leben (Zenon; griechisch: ὁμολογουμένως ζῆν) bzw. in Übereinstimmung mit der Natur leben/der Natur gemäß leben (griechisch: ὁμολογουμένως τῇ φύσει ζῆν; lateinisch: secundum naturam vivere/naturae convenienter vivere) bzw. in Übereinstimmung mit dem Logos/der Vernunft leben/vernunftgemäß leben (griechisch: κατὰ λόγον ζῆν; lateinisch: secundum rationem vivere), was inhaltlich alles auf das Gleiche hinausläuft.

Eine zentrale Lehre in der stoischen Ethik war das Anstreben von „Apatheia" (griechisch: ἀπάθεια; lateinisch impassibilitas; nicht einfach mit „Apathie" als Mattheit, Stumpfsinn und Gleichgültigkeit gleichzusetzen). Dies bedeutet wörtlich einen Zustand der Erleidenslosigkeit. Dieser wird durch Leidenschaftslosigkeit erreicht, eine seelische Verfassung, die gegen das Erleiden einer Gemütsbewegung unempfänglich macht. Die Gleichgültigkeit bezieht sich auf nicht Verfügbares.

Der ideale Mensch, der stoische Weise (griechisch: σοφός; lateinisch: sapiens), ist frei von den Leidenschaften (Affekten) Lust und Schmerz. Diese beruhen auf irrigen Meinungen und er verweigert solchen von außen an ihn herantretenden Vorstellungen seine bewußte Zustimmung. Damit wird nicht das Gefühlsleben schlechthin verworfen, sondern nur unangemessene Emotionen. Allerdings hielten die Stoiker die meisten Gefühle tatsächlich für Abirrungen; so galt Furcht insgesamt als unvernünftig. Affekte stören nach ihnen die Seelenruhe und sind ein Hindernis für das glückliche Leben. Auch andere philosophische Richtungen vertraten Selbstbeherrschung als anzustrebende Haltung, die Stoiker aber besonders weitgehend und als wesentliche Grundlage des guten Handelns und des Glücks.

In der stoischen Ethik ist das einzige Gute die Tugend/Vortrefflichkeit (griechisch: ἀρετή; lateinisch: virtus). Allein die innere Einstellung ist zu beeinflussen, bei der die Vernunft von außen an sie herantretenden Vorstellungen, die ein Streben in Bezug auf eine Verwirklichung auslösen können, ihre bewußte Zustimmung erteilt oder nicht. Tugend besteht dabei darin, nicht irrigen Meinungen zu verfallen, somit den richtigen Weg zum Glück zu beschreiten.

Körperliches gehört nach stoischer Lehre zu äußeren Dingen, die unverfügbar sind (sie folgen den Kausalgesetzen der Natur). Moralisch neutrale Dinge (Adiaphora) sind in sittlicher Hinsicht nicht von Belang (griechisch: ἀδιάφορα „nicht Unterschiedenes“, also Gleichgültiges; lateinisch indifferentia).

Außersittliche Dinge können völlig gleichgültig, Bevorzugtes (griechisch: προηγμένα; lateinisch: praeposita oder praecipua bzw. commoda), also ein positiver Wert (griechisch: ἀξία), oder Zurückgesetztes (griechisch: ἀποπροηγµένα; lateinisch reiecta bzw. incommoda) sein, also ein negativer Wert (griechisch: ἀπαξία). Positive Dinge (griechisch: ἀγαθά; lateinisch: bona) sind in körperlicher Hinsicht z. B. Gesundheit, Stärke oder Schönheit, in äußerer Hinsicht z. B. Reichtum oder Ruhm. Dies sind aber keine sittlichen Güter.

Literatur:

Maximilian Forschner, Die stoische Ethik : über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System. 2., durchgesehene und um ein Nachwort und einen Literaturanhang erweiterte Auflage. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995. ISBN 3-534-12633-5

Maximilian Forschner, Die Stoa (3. Jh. v. Chr. – 2. Jh. n. Chr.). In: Klassiker der Philosophie. Herausgegeben von Otfried Höffe. Band 1. Von den Vorsokratikern bis David Hume. 3., überarbeitete Auflage. München : Beck, 1994 (Beck'sche Reihe ; 1792), S. 90 – 105

Maximilian Forschner, Die Philosophie der Stoa : Logik, Physik und Ethik. Darmstadt : Theiss, 2018. ISBN 978-3-534-26975-4

Malte Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3: Stoa, Epikureismus und Skepsis. 2., aktualisierte Auflage. München : Beck, 1995 (Geschichte der Philosophie. Herausgegeben von Wolfgang Röd ; Band 3). ISBN 3-406-39384-5

Peter Steinmetz. Die Stoa. In: Die hellenistische Philosophie. Zweiter Halbband (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Herausgegeben von Helmut Holzhey. Die Philosophie der Antike - Band 4/2). Herausgegeben von Hellmut Flashar. Basel ; Stuttgart : Schwabe, 1994, S. 491 - 716

Thema Selbsttötung

Die Stoiker lehnen Selbsttötung nicht auf jeden Fall und unbedingt ab. Da sie die Welt für vom Logos erfüllt halten und dies eine Ordnung mit insgesamt vernünftiger Zielrichtung nahelegt, ist das Ausscheiden aus der Welt nicht ganz leicht als wählbare Möglichkeit nachvollziehbar. Zugleich einen als Notwendigkeit/Schicksal geschehenden Verlauf anzunehmen und trotzdem eine Freiheit zu denken, mit der Vorstellungen eine Zustimmung erteilt werden kann oder nicht, ist nichts widerspruchslos Zusammenpassendes.

Der Tod ist für Stoiker etwas, das in sittlicher Hinsicht etwas Indifferentes (Gleichgültiges) ist (griechisch: ἀδιάφον/lateinisch: indifferens).

Die Stoiker haben Selbsttötung unter bestimmten Umständen für erlaubt und berechtigt gehalten. Dabei handelt es sich um eine gut abgewogene Entscheidung aufgrund guter vernunftgemäßer Gründe. Selbsttötung aufgrund von Affekten oder als Kurzschlußreaktion wird von den Stoikern nicht gutgeheißen.

Ein Beispiel ruhmvoller Selbsttötung ist bei ihnen Marcus Porcius Cato (46. v. Chr. in Utica, um nicht von der Gnade des Alleinherrschers Gaius Iulius Caesar leben zu müssen, was seiner dignitas [Ehre/Würde] entgegen gewesen wäre). In der Kaiserzeit hat es auch von Kaisern befohlen Selbsttötungen stoischer Senatoren gegeben, so bei Lucius Annaeus Seneca (der in bestimmten Fällen eine Selbsttötung für gerechtfertigt hielt, sich dabei aber auf freiwillige Selbsttötung bezog).

Lucius Annaeus Seneca, Epistulae morales ad Lucilium („Moralische Briefe an Lucilius" bzw. mit besserer Wiedergabe des Sinns „Briefe über Ethik an Lucilius") 70, 4 – 6:

Itaque sapiens vivet quantum debet, non quantum potest. Videbit ubi victurus sit, cum quibus, quomodo, quid acturus. Cogitat semper qualia vita, non quanta sit. Si multa occurrunt molesta et tranquillitatem turbantia, emittit se; nec hoc tantum in necessitate ultima facit, sed cum primum illi coepit suspecta esse fortuna, diligenter circumspicit numquid illic desinendum sit. Nihil existimat sua referre, faciat finem an accipiat, tardius fiat an citius: non tamquam de magno detrimento timet; nemo multum ex stilicidio potest perdere. Citius mori aut tardius ad rem non pertinet, bene mori aut male ad rem pertinet; bene autem mori est effugere male vivendi periculum.

„Deshalb lebt der Weise so lange, wie er schuldet/soll/die Pflicht hat, nicht solange er kann. Er wird schauen, wo, mit wem, wie er leben und was er tun wird. Er denkt darüber nach, wie beschaffen das Leben ist, nicht wie lange. Wenn ihm viel Beschwerliches/Belastendendes und die Seelenruhe Störendes entgegentritt, schickt er sich heraus; dies tut es nicht nur in äußerster Not, sondern sobald sein Schicksal ihm verdächtig vorzukommen beginnt, blickt er sorgfältig rings herum, ob er dort ein Ende machen muß. Er schätzt als unwesentlich für sich selbst ein, ob er das Ende ausführt oder empfängt, ob es früher oder später geschieht; er fürchtet sich nicht davor wie vor einem großen Verlust/einem großen Schaden/einer großen Einbuße; niemand kann viel beim Entschwinden des Lebens verlieren. Früher zu sterben oder später ist nicht wichtig/ist nicht von Belang/hat keinen Zweck, ob man auf eine gute oder schlechte Art stirbt, ist wichtig/ist von Belang/hat Zweck; auf gute Art sterben aber heißt der Gefahr eines schlechten Lebens zu entfliehen.“

Ulf Gregor Hamacher, Senecas 82. Brief an Lucilius : Dialektikkritik illustriert am Beispiel der Bekämpfung des metus mortis ; ein Kommentar : München ; Leipzig : Saur, 2006 (Beiträge zur Altertumskunde ; Band 230), S. 225 – 227: (zu Seneca, Epistulae morales ad Lucilium 82, 1): „Die personificatio der mors (abstulit, pertubatio) streicht heraus, dass dem Tod zwei Eigenschaften zugeschrieben werden […]: zum einen in letzter Konsequenz befreiende Wirkung (abstulit); zum anderen kann der Tod in verschiedener Hinsicht Verwirrung stiften, nämlich dann, wenn der passende Zeitpunkt zum Selbstmord verpasst worden ist, wenn die Leiden überhand nehmen und das Leben als ἀδιάφον (vgl. epist. 4,8; 61,4; 70,4 f.; 75,17; 77,4.20; 93,7 f. […]; epist. 99,12; 111,5 […] nicht mehr lebenswert erscheint.

Im Vordergrund steht die befreiende Wirkung, insofern er die melior pars des Menschen […] vom corpusculum trennt; vgl. dial. 5,15, 3 f.; epist. 23,6; 70,16; benefic. 1,11,4; SVF III 601). Die Ohnmacht Fortunas offenbar sich für Seneca besonders deutlich darin, dass der Mensch sich durch Selbstmord jederzeit ihrem Einfluss entziehen kann; vgl. epist. 12,10; 17,6; 24,11.17; 26,10; 51,9; 70,14.19 ff.; 77,14; 91,21; 99,11 f.; 101,14; 104,10; 117,21 f.; dial. 1,6,6–9; 1,7 ff.; 2,8, 3; 6,19,5 f.; 6,20,1–3; 6,22,2 f.; 7,25,3; 11,9,4–7.9; benefic. 7,1,7; nat. 6,32,4.12 […]; FDS 11f.

Wie die Alliteration (ante abstulit animum) in Kombination mit der ante betonenden Tmesis (antequam) hervorheben, legt Seneca Wert auf die Beachtung der Umstände, unter denen sich der Mensch zum Selbstmord entschließen kann. Selbstmord im Sinne der Stoiker ist keineswegs eine planlose, im Affekt (conturbavit) vollzogene, sondern eine ganz bewusste, nach sorgfältigem Abwägen ausgeführte, abgeklärte Handlung des denkenden Einzelnen, vgl. epist. 4,4 f.; 24,22 f.; 37,4; 58,36; 70,15.18.26. Daher bezeichneten die Stoiker den Selbstmord als eulogos exagoge; vgl. SVF I 288; III 757–768 […]. Vgl. den von einem Affekt, nicht ratio geleiteten Wunsch nach dem Tod in epist. 4,4; vgl. 24,11,25 f.; 26,10; 30,2 ff. 15.; 51,9; 54,6 f.; 58,29-34; 70,4; 71,15; 77,4.614-16; 78,2 f.5; 98,16; 101,15; 104,3-5; dial. 1,6,7-9 […]; dial. 7,20,5. Ob Zenon sich selbst umgebracht hat, mag auf biographische Erfindung zurückgehen; […].

Die meditatio ist daher absolut notwendig, um zu erkennen, wann der rechte Zeitpunkt für den Selbstmord gekommen ist; vgl. dial. 1,2,10 […]; epist. 70,2-6.27 f.; […].

Der […] Widerspruch zur der dem Weisen unterstellten Gleichgültigkeit allen externa gegenüber (epist. 71,11), worunter auch die problematischen ἀποπροηγµένα gefasst werden müssen, ist einerseits erklärbar durch den Stolz des Stoikers […], andererseits durch die absolute Besonderheit, gegen den metus mortis anzukämpfen; […]. Der Selbstmord ist eben auch für Stoiker nur als ultima ratio vertretbar; vgl. epist. 24,22-26. Wo Seneca vor den beiden gegensätzlichen Gemütsverfassungen metus mortis und libido moriendi warnt.“

S. 227 Anm. 259: „Im Ganzen ist Seneca gleichwohl in der Frage, wann Selbstmord erlaubt sei, eine gewisse Kasuistik nicht zu übersehen; vgl. epist. 13,14; 17,5,9; 24,6 ff.; 26,10; 29,12; 30,2; 51,9; 58,32 ff.; 65,22; 69,6; 70,5-11.19 ff.; 74,21; 77,5-9.14 f.; 98,16-18; 99, 12 […]; epist. 104,3 f.; 87,2 […]; dial. 5, 15,3; benefic. 7,20,3.“

Literatur:

Hans Ebeling, Selbstmord. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9: Se – Sp. Basel ; Stuttgart : Schwabe, 1995, Spalte 493 - 499

Therese Fuhrer, Seneca : Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit. In: Philosophen des Altertums : vom Hellenismus bis zur Spätantike ; eine Einführung. Herausgegeben von Michael Erler und Andreas Graeser. Darmstadt : Primus-Verlag, 2000, S. 91 – 108

Gregor Maurach, Seneca. In: Friedo Ricken (Hrsg.), Philosophen der Antike II. Stuttgart : Kohlhammer, 1996, S. 146 – 168

Gregor Maurach, Seneca : Leben und Werk. 6., bibliographisch aktualisierte und mit einem Nachtrag versehene Auflage. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2013. ISBN 978-3-534-26273-1

Jula Wildberger, Seneca und die Stoa: Der Platz des Menschen in der Welt : Band 1: Text. Band 2: Anhänge, Literatur, Anmerkungen und Register. Berlin ; New York : de Gruyter, 2006 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte ; Band 84. ISBN 978-3-11-019148-6


ainad 
Beitragsersteller
 14.11.2021, 10:43

Vielen Dank für diese sehr hilfreiche und ausführliche Abtwort, sie hat mir sehr weiter geholfen!

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