Orient - Definition?

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Einen einheitlichen allgemein gebräuchlichen Sprachgebrauch von „Orient“ hat es damals nicht gegeben. Der Begriff »Orient« konnte sowohl geographische als kulturelle Bedeutung haben. Welche Länder/Gebiete als zum Orient gehörig verstanden wurden, war unterschiedlich. Im deutschen Sprachbereich gab es als Synonym zu »Orient« außerdem auch noch »Morgenland«.

Auch erhebliche Teile des südlichen Europas sind damals als Orient bezeichnet worden. Einerseits erstreckte sich das Osmanische Reich damals weit in Südosteuropa hinein, andererseits gab es Einflüsse islamischer/muslimischer Staaten/Völker (wie Araber, Türken), die z. B. in Bauten/Architektur sichtbar waren (z. B. in Spanien als „maurische“ Architektur). Weite Teile Nordafrikas wurden zum Orient gezählt.

Von Asien gehörte in einem engen Sinn Vorderasien oder anders ausgedrückt der Nahe und Mittlere Osten zum Orient, in einem weiten Sinn auch der Ferne Osten (z. B. China und Japan). Es sind sogar die Begriffe »Asien« und »Orient« synonym verwendet worden, weil der Orient - mit Ausnahme des Gebietes des Russischen Reiches (die russische Sprache wurde nicht zu den orientalischen Sprachen eingeordnet und seit dem Aufstieg unter der Herrschaft von Peter I. [»der Große«] konnte Rußland zu den »abendländischen« Mächten gezählt werden) – so weite Teile Asiens umfaßte, daß der Orient insgesamt (einschließlich seiner europäischenn und afrikanischen Gebiete) in der Vorstellung als asiatisch erscheinen konnte und umgekehrt Asien als orientalisch.

Andrea Polaschegg, Der andere Orientalismus : Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin ; New York : de Gruyter, 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; Band 35), S. 63 - 101

S. 70: „Wer im 18. und 19. Jahrhundert aus den deutschen Staaten in den Orient reisen wollte - das zeigt bereits ein kursorischer Überblick über die geographischen Abmessungen des damaligen Morgenlandes -, der mußte das heutige Europa nicht verlassen. Der gesamte Südosten des Kontinents gehörte schon seit dem 16. Jahrhundert zum Osmanischen Reich, war also in deutschen Augen „türkisch“. Bosnien, Serbien, die Walachei oder Moldau muteten den Westeuropäer nicht weniger orientalisch an als die arabische Halbinsel. Von Westen kommend, befand man sich bereits kurz hinter Wien in einer west-östlichen Grenzregion.“

„Doch nicht nur der Osten Europas, nicht allein der Balkan - einschließlich der griechischen Halbinsel, die bis ins frühe 19. Jahrhundert ebenfalls osmanisch war -, sowie Kreta und Zypern gehörten zum Orient. Auch eine Reise in den Südwesten des Kontinents, nach Spanien oder Sizilien, konnte im 18. und 19. Jahrhundert zur „Morgenlandfahrt“ werden. In Spanien war es vor allem die aus 700 Jahren islamischer Geschichte zurückgebliebene Architektur, die besonders Andalusien in deutschen Augen orientalisches Colorit verlieh.“

S. 72 – 73: „In ähnlicher Weise orientalisch kodiert wie Spanien, wenn auch als morgenländischer Schauplatz in der Literatur nicht in diesem Ausmaß prominent, war im 19. Jahrhundert zudem Sizilien. Genauer gesagt wurde die damalige Gegenwart Siziliens als orientalisch wahrgenommen, während die Vergangenheit des Landes unter das klassizistische Konzept der griechischen Antike fiel, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf sizilianischem Boden wieder entdeckt wurde. Noch 1854 wurden Berichte von Reisen durch Sizilien als Orient-Reiseberichte veröffentlicht und trugen Titel wie Ein Jahr im Orient oder Griechenland unter Otto II., die Türkei unter Abdul-Medschid und Sicilien unter Ferdinand II. Wie bei der Zuordnung Spaniens zum Morgenland kam auch im Fall Siziliens der Baukunst eine Schlüsselrolle zu.“

S. 73: „Geographisch betrachtet waren die morgenländischen Regionen des südlichen europäischen Kontinents also exzentrisch verteilt: Spanien lag ganz im Westen, der Balkan mit Griechenland im Osten und dazwischen erstreckten sich abendländische Landstriche. Verbindendes orientalisches Element zwischen diesen europäischen Morgenländern und Sizilien war das Mittelmeer. Schließlich wurde, abgesehen von den Gestaden Italiens und Frankreichs, im 18. und 19. Jahrhundert die gesamte Küste des mittelländischen Meeres zum Orient gerechnet – von Gibraltar über Algier, Tunis und Tripolis, Alexandria, Akkon, Smyrna und Saloniki bis Montenegro. Und letztlich trug auch das Meer selbst eine morgenländische Signatur. Auf ihm kreuzten nämlich die Korsaren-Schiffe der nordafrikanischen „Barbaresken“-Staaten, wozu neben Marokko und Algerien auch die osmanischen Vasallen Tunesien und Tripolitanien (also der nord-westliche Teil des heutigen Libyen) zählten.“

S. 83: „Daß im 18. und 19. Jahrhundert der Islam zwar ein Teil des Konzepts ,Orient' war, aber keineswegs die semantische Klammer aller orientalischen Völker und Regionen bildete, ist indes nicht allein seiner kulturgeschichtlichen Jugend geschuldet. Auch geographisch übersteigen die Weltregionen, die zu jener Zeit zum Morgenland gerechnet wurden, sowohl die zeitgenössischen als auch die historischen Verbreitungsgebiete des Islam bei weitem. Denn der ,Orient' umfaßte neben den Türken, Arabern und Persern auch Indien, die Mongolischen Reiche, China und sogar Japan.“

S. 84: „Das Neue Rheinische Conversation-Lexicon schließlich setzt den Orient sogar mit Asien gleich und schreibt: „Wir Europäer verstehen im Allgemeinen unter dem Oriente die Länder Asiens." Auch zu den „orientalischen Sprachen" steht dort zu lesen:

Im gemeinen Leben versteht man unter der Benennung orientalische Sprachen die Sprachen Asiens ohne Unterschied, persische, arabische , türkische, hebräische, chinesische, armenische, koptische etc.

Die hier vorgenommene Überblendung von ,Asiatischem' und ,Orientalischem' macht explizit, was sich in zahllosen anderen Texten als synonymer Gebrauch der Begriffe ,Asien' und ,Orient' niederschlägt. Das ist nicht allein aufgrund des Umstands bemerkenswert, daß - wie schon gesehen — der Orient Regionen mit einschloß, die in Europa und Afrika lagen, sondern auch angesichts der Tatsache, daß zu jener Zeit mit Rußland ein asiatisches Reich existierte, das keine orientalische Signatur trug. Die russische Sprache fiel nicht unter die Kategorie der orientalischen Sprachen, und seit dem Aufstieg des russischen Reiches zum gobal player im frühen 18. Jahrhundert unter Peter dem Großen wurde Rußland ganz selbstverständlich zu den abendländischen Mächten gezählt. Abgesehen vom russischen Reichsgebiet aber deckte der Orient des 18. und 19. Jahrhunderts so weite Teile Asiens ab, daß er tatsächlich in Gänze – einschließlich seiner afrikanischen und europäischen Regionen - als asiatisch vorgestellt werden konnte und vice versa.“

S. 85: „Trotz der groben Linienführung bei diesem Versuch, das Gebiet des Orients im 18. und 19. Jahrhundert zu skizzieren, zeichnen sich doch die Umrisse dieses Meta-Kulturraumes in ihrer ganzen Großzügigkeit bereits jetzt ab: Das Morgenland begann zu dieser Zeit östlich von Wien und südwestlich von Toulouse, reichte über die west- und nordafrikanische Küste bis Ägypten und hinunter nach Äthiopien, umfaßte den Nahen und Mittleren Osten, Griechenland und den gesamten Balkan, Kleinasien, Persien, Indien, Indonesien, Japan und China. Zusätzlich war der Orient mit den Konzepten ,Asien' und ,Afrika' verbunden; und zwar durch diskursive Achsen, entlang derer sich Länder und ganze Kontinente so verschieben ließen, daß die Bewohner der arabischen Halbinsel als afrikanisch und die Spanier als asiatisch vorgestellt werden konnten.“

Hans-Joachim König, Orientalismus. 1. Theorie. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachwissenschaftlern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Band 9: Naturhaushalt - Physiokratie. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2009, Spalte 494 - 591

Spalte 494 – 495 (zum Bezugsrahmen): „Seit dem 18. Jh. wurde Gelehrte für oriental. Sprachen und Kulturen im europ. Sprachgebrauch als Orientalisten bezeichnet […]; damit waren die lebenden und toten Sprachen Asiens wie u. a. das Hebräische (↗ Hebraistik), Syrische, Arabische (↗ Arabistik), Chaldäische oder Persische gemeint. Oriental und »Orient« hatten zunächst eine geographische Dimension, seit der Antike auf den Osten bezogen: auf das Reich der »aufgehenden Sonne« (lat. sol oriens), den Orient als eine konkrete und abstrakte Region östl. des als Westen, ↗ Okzident oder ↗ Abendland bezeichneten ↗ Europas. Unter Orient verstand man allgemein die Länder Asiens bis Indien, China und Japan, im engeren Sinn den Raum von der östl. Mittelmeerküste bis zum Iran.“

Jh. = Jahrhundert  

oriental. = orientalische  

europ. = europäischen  

u. a. = unter anderem  

lat. = lateinisch  

östl. = östlich(en)

Hans-Joachim König, Morgenland. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachwissenschaftlern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Band 8: Manufaktur – Naturhaushalt. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2008, Spalte 793 - 795

Spalte 793 – 794: „Als Martin Luther bei der Übersetzung des NT (1522) die »magi ab orienti« in der Weihnachtsgeschichte (Mt. 2, 1) mit »Weise vom M.« übersetzte, ahnte er nicht, dass er damit einen Begriff geprägt hatte, der bis heute im dt. Sprachraum verwendet wird. Geographisch bezeichnete M. damit zunächst die Gegend östl. des Heiligen Landes der Bibel, bezog sich aber bald auf dasjenige, was von Europa aus gesehen in Richtung der aufgehenden Sonne (lat. sol oriens) - also im Osten – liegt. So ist M. das Gegenstück zum dt. ↗ Abendland, mit dem Europa assoziiert wird, und ist gleichbedeutend mit dem sonst in Europa allgemein üblichen Begriff »Orient«. Beide Bezeichnungen enthalten bestimmte Konnotationen im Kontext der europ. ↗ Weltwahrnehmung.

Der Terminus M. wurde (und wird noch) allein im dt. Sprachraum verwendet. Zunächst trat er hauptsächlich im religiösen Zusammenhang in Verbindung mit den »Weise aus dem M.« und den ↗ Heiligen drei Königen auf und war eine ältere Wendung für den Orient. Er erscheint aber auch im geographischen Kontext, so etwa im 18. Jh. in Beschreibungen von ↗ Reisen in muslim. Länder des Orients (Arabien, Türkei oder Persien), also wo von den Mohammedanern als »Morgenländern« die Rede ist (so z. B. der Forschungsreisende und Mathematiker Carsten Niebuhr über eine Reise in den Orient, 1761 – 1767 […], oder der norddt. Pastor Hermann Christian Paulsen […]).

M. meint also geographisch den Raum des Nahen Ostens bzw. des Vorderen Orients, bisweilen schloss es aber auch den Fernen Osten ein. Die 1845 gegründete und bis heute wirkende dt. wiss. Orientalistenvereinigung, die Dt. Morgenländische Gesellschaft, verstand den Begriff ebenfalls in diesem weiteren Sinn und bezog China und Japan in ihre Aktivitäten mit ein […]. Sie beschäftigte sich mit Sprachen und Kulturen des M.“

NT = Neues Testament  

Mt. = (Evangelium nach) Matthäus  

M. = Morgenland(des)  

dt. = deutschen  

östl. = östlich  

lat. = lateinisch  

europ. = europäischen  

Jh. = Jahrhundert  

muslim. = muslimische  

norddt. = norddeutsche 

wiss. = wissenschaftliche  

Dt. = Deutsche


DamyDamy 
Beitragsersteller
 21.04.2016, 21:55

Danke für die ausführliche Antwort! Die Literaturhinweise allein hätten allerdings auch schon gereicht :) 

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