Manche Lieder begeistern einen schon beim 1. Mal hören, andere muss man erst oft hören. Wonach/wie beurteilt unser Hirn da genau ?

 - (Musik, Psychologie, Medizin)

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Unser Gehirn arbeitet bei der Wahrnehmung nicht objektiv, sondern die Reize (in diesem Fall die Töne des Liedes), werden wie durch einen Filter aufgenommen. Dieser Filter hat sich sozusagen im Laufe deines Lebens gebildet: Mit manchen Tönen verbindest du also eher schöne und positive Erinnerungen und mit manchen eher schlechte Erinnerungen oder Gefühle.

Das alles passiert natürlich nicht bewusst sondern im unbewussten und deshalb bemerken wir diesen Vorgang gar nicht.

Ich hoffe das hat deine Frage beantwortet :) LG


Die Beantwortung würde mindestens ein Buch füllen... Vergleiche es zum Beispiel mit der Liebe auf den ersten Blick und der Antisympathie auf den ersten Blick - Wie kommt unser Gehirn zu diesen Beurteilungen - Empfindungen gegenüber einem anderen Menschen? - Ein mehrbändiges Lexikon zur Beantwortung folgt...

  • Grundlage der verschiedenen Wahrnehmungen und Wirkungen ist unser individuelles Gehirn und schon seine vorgeburtliche Prägung: Ab der sechsten Schwangerschaftswoche hören wir schon im Bauch unserer Mutter - und nehmen die Aktionen und Reaktionen unserer Mutter in Verbindung zu den erfahrenen Geräuschen auch gefühlsmäßig (!) wahr.

> Zum Beispiel kann man im "Haus der Musik" in Wien in einem der ersten Räume die Geräuschwelt einer "Embryo-Situation" hören.

  • Der nächste Schritt in unserem Gehirn ist das nachgeburtliche prägende Lernen möglichst aller Wahrnehmungsreize mit ihren Wirkungen mit Speichern im Langzeitgedächtnis: Wir verknüpfen diese akustischen Reize mit Gefühlen und Gedanken, das führt zu Mustern schon im Kleinkindalter. Diese Muster (mindestens akustischer Reiz > Gefühl > Gedanke > Impuls zum Verhalten (abstrahiert: Angriff - Ohnmacht / Schlaf - Flucht)) memorisiert das Gehirn (nicht nur) beim Erleben von Musik (vgl. auch die akustische Wahrnehmung während der Geburt - z. B. Urschrei-Theorie).
  • Der nächste Schritt ist das Wachstum unseres Gehirns, sowohl im Anbau neuer Nervenzellen bis zur "Ausgereiftheit", als auch in der Vernetzung mittels der synaptischen Verschaltungen: Das bedeutet, jedes Gehirn, jeder Mensch entwickelt teils durch Veranlagung, teils durch Erlernen ("Training") eine andere "Komplexitätstoleranz" für verschiedenste Bereiche (Systeme der Zeitkunst wie Musik, der Raumkunst wie Architektur, der Zahlenkunst wie Mathematik, der Verhaltensmodelle wie Religionsglaube und Wissenschaftsglaube usw.). 
  • Der nächste Schritt ist die Gewöhnung unseres Gehirns an das Leben. Leben ist veränderte Wiederholung bzw. sich wiederholende Veränderung. Auch ein musikalisches System (Musikwerk wie ein Lied) gestaltet sich als veränderte Wiederholung eines bekannten oder noch unbekannten Musters. Je weniger bekannt für das Gehirn, desto komplexer kann die Wahrnehmung bzw. die Aufnahme der Reize sein: Manche Gehirne lieben diese Fremdheit, die meisten aber eher die Bekanntheit; denn Bekanntes bewirkt häufiger die emotionale Geborgenheit, weil mehr Menschen in "bekannten Neuem" aufgewachsen sind...
  • Der nächste Schritt ist die Erfahrung von "Schlüsselreizen" innerhalb eines Systems. Das wäre in einem Lied z. B. der Tritonus: Die empfundene Spannung des Tritonus sei angeboren, die Empfindung von Harmonie und Disharmonie (z. B. Dur, Moll, akkordische Disharmonie, Atonalität) sei geprägt und erlernt: Gefällt z. B. einem Inder bayerische Volksmusik? Gefällt dem Liebhaber bayerischer Volksmusik indische Musik? - Je näher sich die Muster kommen, desto eher, weil die "veränderte Wiederholung" dann nur kleinste Fortschritte gegangen ist.
  • Der letzte Schritt ist nun z. B. der Liedvergleich: "Musikgrammatikalische" Struktur der Werke - von Rhythmus (in Raum und Zeit, sprich in Harmonie und Melodie) und Klangfarbe, von Lautstärke und Ort der Wahrnehmung, weiterhin in der Möglichkeit der atmungstechnischen Phrasierung (z. B. Sangbarkeit).

Und nun ist es, oberflächlich betrachtet, recht einfach: (Zumeist) Je näher eine Musik der unter- und bewussten Hör- und Empfindungsgewohnheit trotz oder gerade wegen ihrer veränderten Wiederholung eines Musters kommt, desto mehr gefällt sie (vgl. Placebo- und Nocebo-Effekt).

Einmal ist es eine Frage der Komplexitätstoleranz. Songs, die in den Charts oben sind, sind oft sehr einfach strukturiert, so dass sie sich auch einfachen Gemütern schnell erschließen. Hat oft den Haken, dass sie anderen Leuten sehr schnell auf die Nerven gehen.

Komplizierte Lieder muss man mitunter mehrmals hören, bis man da einen Fuß in die Türe bekommt. Das Hirn sucht Strukturen und Muster. Erst wenn es diese gefunden hat, ist ein Lied ein Lied und nicht mehr eine wirre Geräuschkulisse.

Es können aber auch unendlich viele weitere Faktoren eine Rolle spielen. Alkohol. Oder eine Situation: Du bist verliebt und verbindest nun eingehende Songs mit dem Gefühl der Verliebtheit. Ein Film, bei dem die Musik eingesetzt wird. Ein Instrumentenpart, der stark genug ist, dass dich der kärgliche Rest nicht abschreckt (etwa starkes Schlagzeug etc.). Und wenn das Lied von den Lieblingsinterpreten gesungen wird, ist es fast schon egal, wie schlecht es ist und gefällt trotzdem.

Musik verbindet Erinnerungen und Gefühle. Hinzu kommt dein individuelles Musikverständnis. Magst du es plump, einfach, oder lieber etwas anspruchsvollere, komplexere Klangstrukturen.

Bei einfachen Lieder wird die Melodie schnell entschlüsselt, man erkennt sofort ob sie einem gefällt, umso schneller verleidet sie auch wieder, oder nervt geradezu.

Komplexere Melodien brauchen länger bis sie gefallen, man mag sie dann aber auch meist länger, weil es immer wieder etwas neues zu entdecken gibt.

Bei mir ist das ganz extrem ausgeprägt. Simple Musik wie Marsch, Schlager und ähnliches verleidet mir schon nach der ersten Strophe. Der primitive Takt und Refrain nervt mich nach kurzer Zeit. Ich kann so ein Stück nicht freiwillig zu ende hören, nur wenn es die Situation nicht anders zulässt :-)

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Liebhaber innovativer kreativer Musik in fast allen Genre

Das ist wie mit Filmen bei wiederholtem Ansehen der Filme fallen einem immer wieder neue Feinheiten auf. Ich denke ähnlich ist es mit Liedern. Wo dir eventuell irgendwo ein Part des Liedes nicht gefällt merkst du erst nach 3 4 mal dass der Part doch ganz geil war