Lorentzkraft Relativitätstheorie?

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Hallo NetterGau,

stell Dir einen insgesamt elektrisch neutralen Draht D vor, den wir als ruhend betrachten, d.h. v₀ = 0, in seinem eigenen Ruhesystem Σ, in dem D in x- Richtung ausgerichtet ist.

Durch ihn fließt ein Strom I und erzeugt ein magnetisches Wirbelfeld der Flussdichte

(1) B = μ₀I/2πr

(r = Abstand vom Draht) um D herum.

Die LORENTZkraft...

Ein Körper O' mit der Ladung q, der sich im Abstand y mit der 1D-Geschwindigkeit v₁ den Draht entlang bewegt, erfährt eine LORENTZKraft in y-Richtung mit dem Betrag

(2.1) F_L = qv₁B = qv₁μ₀I/2πr

und erfährt aufgrund seiner Impulsmasse mᵥ eine Beschleunigung mit dem Betrag

(2.2) a_L = qv₁μ₀I/2πrmᵥ

in dieselbe Richtung. Statt r hätten wir auch y schreiben können. Dadurch erfährt er in der sehr kurzen Zeitspanne dt eine sehr kleine Ablenkung

(2.3) dy = ½∙a_L∙dt².

Und statt I kann man auch ‹j∙A› schreiben, wobei j› die Stromdichte und A› der Flächennormalenvektor des Leiterquerschnitts ist (er steht senkrecht auf dem Querschnitt und sein Betrag ist dessen Fläche proportional). In dieser Konstellation können wir einfach j∙A schreiben, weil nur eine Komponente relevant ist.

... aber welche Kraft wirkt auf den Körper in seinem eigenen Ruhesystem?

So weit, so klar – bis wir dasselbe Szenario im Ruhesystem Σ' von O' betrachten: v'₀ = −v₁, v'₁ = 0. Damit muss auch F_L' = 0 sein.

Wie kann das sein? Zwei verschiedene Koordinatensysteme sind doch nicht zwei verschiedene Realitäten. Eine Kraft, die auf O' wirkt, muss es auch in Σ' geben, nur kann sie nicht als LORENTZkraft gedeutet werden.

Die einzige Möglichkeit ist eigentlich eine elektrische Kraft, aber dazu müsste D insgesamt elektrisch geladen sein.

Nun ist D nur makroskopisch neutral. Er besteht aus Metall und damit aus positiv geladenen Atomrümpfen der Ladungsdichte ρ⁺, die von einer Art "Gas" aus Elektronen mit der Dichte ρ ⁻ = −ρ⁺ umgeben sind. Diese bewegen sich thermisch, wie man es von einem Gas erwartet. Angetrieben vom elektrischen Feld driften aber auch mit der 1D-Geschwindigkeit

(3) v₂ = −j⁄ρ⁺

durch D. Ladung ist also reichlich vorhanden, gleicht sich aber aus. In Σ' muss aber eine der Ladungen überwiegen, d.h., ρ'⁻ ≠ −ρ'⁺.

Das ist tatsächlich nur mit Hilfe der SRT verständlich.

Ansatz über die "Längenkontraktion"

Ein Körper ist in einem Koordinatensystem, in dem er sich mit konstanter 1D-Geschwindigkeit vₙ bewegt, in Bewegungsrichtung um den Faktor

(4) √{1 − βₙ²} = 1⁄γₙ

kürzer als in seinem eigenen Ruhesystem, wobei c die Lichtgeschwindigkeit und βₙ = vₙ⁄c ist.

In ihrem eigenen Ruhesystem Σ" haben die Elektronen die Ladungsdichte ρ⁻" = −ρ⁺⁄γ₂, die positiven Ladungsträger die Ladungsdichte ρ⁺" = ρ⁺∙γ₂. Das führt in Σ" zu einem leicht positiven Ladungsüberschuss.*)

Zwar ist v₂ winzig bei typischen Stromstärken (in einer Größenordnung von mm⁄s), und β₂ erst recht, und γ₂ ist daher praktisch gleich 1, aber es sind sehr viele Elektronen (Größenordnung 10²⁰) selbst in einem kleinen Stück Draht.

Im Ruhesystem Σ' von O' bewegt sich D mit −v₁ bzw. β₁ und die Elektronen mit

(5) β'₁ = (β₂ − β₁)/(1 − β₁β₂),

das folgt aus dem relativistischen Additionstheorem für (kollineare) Geschwindigkeiten. Setzt man diesen Ausdruck in die Formel (4.2) für den LORENTZ - Faktor ein, erhält man nach etwas komplizierter Rechnung den LORENTZ- Faktor für die Elektronen:

(6) γ'₂ = γ₁γ₂(1 − β₁β₂)

Die Elektronen haben in ihrem eigenen Ruhesystem die Ladungsdichte −ρ⁺⁄γ₂, weshalb sie im Ruhesystem von O' die Ladungsdichte

(7.1) ρ'⁻ = −γ'₂∙ρ⁺⁄γ₂ = −γ₁(1 − β₁β₂)ρ⁺

haben, im Vergleich zu

(7.2) ρ'⁺ = γ₁ρ⁺

für die positiven Ladungsträger. Daraus ergibt sich der Ladungsüberschuss

(7.3) ρ' = γ₁ρ⁺β₁β₂ = γ₁ρ⁺v₁v₂⁄c² = −γ₁v₁j⁄c²

(welches Vorzeichen der hat, hängt von der Bewegungsrichtung von O' im Vergleich zum Stromfluss ab). Daraus ergibt sich eine Kraft mit dem Betrag

(8.1) F' = qρ'A/2πε₀r = qγ₁j²A/2πρ⁺c²ε₀r = qγ₁v₁μ₀I/2πr.

Der Vergleich mit (2) zeigt: Die Kraft F' ist um den Faktor γ₁ stärker als F_L. Gleichzeitig hat O' in seinem eigenen Ruhesystem Σ' nur die Trägheit m = mᵥ⁄γ₁, sodass er die Beschleunigung

(8.2) a' = qγ₁v₁μ₀I/2πrm = qγ₁²v₁μ₀I/2πrmᵥ

erfährt. Dadurch wird er in der sehr kurzen Zeitspanne dt' um

(8.3) dy' = dy = ½∙a'∙dt'² = ½∙a_L∙γ₁²dt'²

verschoben. Der Vergleich von (8.3) mit (2.3) liefert

(9) dt² = γ₁²dt'² =>  dt = γ₁dt'.

Der Vorgang derselben Verschiebung dauert in Σ also um den Faktor γ₁ länger als in Σ'. Genau dies sagt die SRT voraus.

Ein einfacherer Ansatz: Die Viererstromdichte

Die SRT ist in gewisser Weise Geometrie der Raumzeit, einer Struktur, die je nach Bezugskörper unterschiedlich in Zeit (entlang der Weltlinie (WL) des Körpers) und Raum (3D quer zu dieser WL) zu zerlegen ist.

Jedes Ereignis hat also 4 Koordinaten, und die Lage eines Ereignisses relativ zu einem anderen lässt sich als Vektor mit 4 Komponenten darstellen, Vierervektoren eben. Auch die Energie und der Impuls eines Körpers bzw. Leistung und Kraft bilden jeweils einen Vierervektor – und Ladungsdichte und Stromdichte:

(10) j» := (cρ | j›).

Wir brauchen hier nur eine Komponente von j›. Die Viererstromdichte lässt sich LORENTZ- transformieren:

(11.1) cρ' = γ₁cρ − γ₁β₁j

(11.2) j' = γ₁j − γ₁β₁cρ = γ₁j − γ₁v₁ρ

In unserem Fall ist ρ = 0 (D ist in seinem eigenen Ruhesystem insgesamt neutral), und so reduzieren sich (10.1-2) auf

(12.1) cρ' = −γ₁β₁j

(12.2) j' = γ₁j

Für unsere Betrachtung ist natürlich vor allem (11.1) wichtig, und die entspricht (7.3).

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Siehe auch diesen Artikel bzw. Abschnitt

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung

SlowPhil  16.02.2023, 10:03

Vielen Dank für den Stern!

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NetterGau 
Beitragsersteller
 28.04.2023, 18:15
@SlowPhil

Phil, kann es sein, dass Du eine andere Frage bearbeitet hast, als die, die ich Dir gestellt habe?

Und vieles von dem, was Du schreibst, hat gar nichts mit der Frage zu tun.

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SlowPhil  28.04.2023, 18:32
@NetterGau

Das verstehe ich nicht. Es ging doch darum, die LORENTZkraft, wie sie im Ruhesystem des Drahtes auf den bewegten geladenen Körper wirkt, mit der elektrostatischen Kraft im Ruhesystem des Körpers selbst zu vergleichen, die durch das aufgrund der "Längenkontraktion" auftretende Ladungsungleichgewicht auftritt.

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NetterGau 
Beitragsersteller
 28.04.2023, 21:08
@SlowPhil

In welche Richtung bewegt sich denn Dein geladener Körper?

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SlowPhil  28.04.2023, 21:37
@NetterGau

In x-Richtung bzw., falls v₁ negativ sein sollte, in negative x-Richtung, in die sich auch der Draht erstreckt. Durch die LORENTZkraft kommt dann noch eine Bewegung in y-Richtung dazu.

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NetterGau 
Beitragsersteller
 29.04.2023, 09:49
@SlowPhil

Und die Aufgabe bestand darin, der geladene Körper möge sich senkrecht zum stromdurchflossenen Draht bewegen. Das ist eine ganz andere Situation, wie ich Dir auch erklärte.

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SlowPhil  29.04.2023, 12:14
@NetterGau

In der Frage stand nichts davon, dass sich der geladene Körper schon ursprünglich senkrecht zum Draht bewegen sollte. Und in diesem Fall würde auch die gesamte Argumentation mit der "Längenkontraktion" nicht funktionieren, weil sich im Ruhesystem des Körpers der gesamte Draht senkrecht zu seiner Ausrichtung bewegen würde. In diesem Fall wäre es die zeitliche Änderungsrate des Magnetfeldes, die ein elektrisches Wirbelfeld erzeugt und den Körper dadurch ablenkt, kein relativistisches Ungleichgewicht in der Ladungsdichte.

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NetterGau 
Beitragsersteller
 29.04.2023, 14:01
@SlowPhil

Und dass Du von einer zeitlichen Änderung des B-Feldes mit der Folge eines E-Feldes sprichst, zeigt m.E., dass Du versuchst, mit den klassischen Maxwellschen Begriffen ranzugehen, also den eigentlichen Kern der Aufgabe nach wie vor nicht erfasst hast.

Bin etwas ratlos.

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SlowPhil  29.04.2023, 14:49
@NetterGau
...zeigt m.E., dass Du versuchst, mit den klassischen Maxwellschen Begriffen ranzugehen,...

Die MAXWELLschen Gleichungen sind nicht "klassisch" im Sinne von vor- relativistisch. Aus heutiger Sicht implizieren sie die SRT bereits, da sie als Naturgesetze GALILEIs Relativitätsprinzip unterliegen müssen.

...also den eigentlichen Kern der Aufgabe nach wie vor nicht erfasst hast.

Das ist eine krasse Fehleinschätzung. Die Änderung des Magnetfeldes habe ich erst in meinem letzten Kommentar ins Spiel gebracht, weil Du gesagt hast, der geladene Körper solle sich ursprünglich senkrecht zum Draht bewegen statt den Draht entlang. Im Ruhesystem des Körpers würde sich dann der Draht senkrecht zu seiner Ausrichtung bewegen, und das bewirkt genau nicht den Ladungsüberschuss, den die SRT vorhersagt. Die einzig verbleibende Erklärung dafür, dass der Körper beschleunigt wird, ist dann die zeitliche Änderungsrate des Magnetfeldes.

Nur wenn sich – wie ich es in der Antwort konstruiert habe, der geladene Körper ursprünglich den Draht entlang bewegt, ist die von der SRT vorhergesagte "Längenkontraktion" und das dadurch bewirkte leichte Ladungsungleichgewicht die Erklärung für die Kraft im Ruhesystem des geladenen Körpers.

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NetterGau 
Beitragsersteller
 01.05.2023, 09:39
@SlowPhil

Ich sehe das anders und bleibe dabei: Das ist ein klassischer Ansatz, der nicht zur Aufgabe passt. Deine Aussagen zu den Maxwell-Gleichungen haben nichts damit zu tun.

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SlowPhil  02.05.2023, 10:11
@NetterGau

Die Argumentation mit der SRT funktioniert schlicht und einfach nur, wenn sich O' anfänglich längs zu D bewegt. Das ist Tatsache. Denk mal einen Augenblick darüber nach.

Es geht darum, dass sich im Draht die Elektronen im Schnitt mit einer leicht anderen Geschwindigkeit bewegen als die positiven Ladungsträger, sodass im Ruhesystem von D die Ladungen sich ausgleichen, im Ruhesystem von O' jedoch nicht ganz.

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Wenn man sich mit der speziellen Relativitätstheorie beschäftigt, dann kann man damit ausrechnen, wie sich Zeit, Länge und Energie verändern, wenn sich Dinge mit sehr hohen Geschwindigkeiten bewegen. Um das zu berechnen, braucht man spezielle Formeln, die anders sind als die normalen Formeln. Zum Beispiel gibt es eine Formel, mit der man ausrechnen kann, wie viel länger oder kürzer ein Gegenstand aussieht, wenn er sich schnell bewegt. Eine andere Formel beschreibt, wie sich die Zeit verändert, wenn man sich schnell bewegt.

Wenn man das Ergebnis von den relativistischen Formeln mit den normalen Formeln vergleicht, dann wird man feststellen, dass sie oft unterschiedlich sind. Das liegt daran, dass die normalen Formeln nur für Dinge gelten, die sich langsam bewegen. Wenn man sich aber sehr schnell bewegt, dann gelten die normalen Formeln nicht mehr. Es ist also wichtig, die relativistischen Formeln zu benutzen, wenn man mit sehr schnellen Dingen zu tun hat.


SlowPhil  15.02.2023, 15:11
... braucht man spezielle Formeln, die anders sind als die normalen Formeln.

Der Fragesteller hat mit Recht das Wort "normal" in Anführungszeichen gesetzt, denn der Begriff der Normalität ist in diesem Zusammenhang fragwürdig.

Die SRT ist nicht weniger normal als die NM (gemeint ist die NEWTONsche Mechanik), die nur im speziellen Fall in guter Näherung richtig ist, dass die Geschwindigkeiten der beteiligten Körper relativ zueinander sehr klein im Vergleich zu c sind.

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