Handlungsutilitarismus / Regelutilitarismus Bentham/Mill (und Aristoteles?)

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1) Handlungsutilitarismus oder Regelutilitarismus bei Mill

Die Gegenüberstellung von Handlungsutilitarismus, bei dem sich auf die Beurteilung auf die Folgen einer einzelnen Handlung bezieht, und Regelutilitarismus, bei dem für die Beurteilung Grundsätze für das Handeln/Handlungsregeln (Sekundärprinzipien, da auf einer zweiten Ebene stehend) Bedeutung bekommen, die das auf einer ersten grundlegend Ebene stehende (daher Primärprinzip) ziemlich abstrakte Nützlichkeitsprinzip für die moralische Praxis in etwas konkretere, lehr- und lernbare Anleitungen umformen (die Sekundärprinzipien erhalten dabei eine eigenständige Verbindlichkeit), stammt aus dem 20. Jahrhundert.

John Stuart Mill nimmt daher nicht ausdrücklich zu dieser Alternative Stellung. Seine Aussagen ergeben dazu keinen restlos einheitlichen Standpunkt. Der Sache nach läuft seine Auffassung allerdings auf einen Regelutilitarismus hinaus, auch wenn er nicht voll ausgebildet ist.

Mill vertritt einen Handlungsutilitarimus in Bezug darauf, was die richtige Handlung ist (nämlich zur Glückförderung), aber einen Regelutilitarismus in Bezug darauf, was moralisch geboten ist (wie gehandelt werde soll).

Im 2. Kapitel des Werkes „Utilitarianism“ spricht sich Mill für Regeln als sekundäre Prinzipien aus. Dabei ohne Ausnahmen auszukommen, erwartet er nicht. Dann kann ein anderes sekundäres Prinzip Vorrang haben. Das Nützlichkeitsprinzip entscheidet in solchen Konfliktfällen und bildet damit eine Regel auf einer höheren Ebene (Metaregel). Das Nützlichkeitsprinzip ist kein Teil des Systems sanktionsbewehrter Regeln, sondern dessen Rechtfertigung.

John Stuart Mill, Der Utilitarismus. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Dieter Birnbacher. Durchgesehene Ausgabe. Stuttgart : Reclam, 1985 (Universal-Bibliothek ; 9821), S. 41 - 42:
„Aber die Regeln der Moral für verbesserungsfähig zu halten, heißt nicht, sich über die mittleren allgemeinen Prinzipien hinwegzusetzen und jede Handlung unmittelbar am obersten Prinzip zu prüfen. Es ist nicht einzusehen, warum die Anerkennung eines ersten Prinzips mit der Einbeziehung sekundärer Prinzipien unverträglich sein soll. Wenn man einen Reisenden die Lage seines Bestimmungsortes erklärt, verbietet man ihm nicht, sich unterwegs an die Grenzsteine und Wegweiser zu halten.“

S. 42: „Welches Grundprinzip der Moral wir auch vertreten werden, stets bedürfen wir untergeordneter Prinzipien, nach denen wir es anwenden können;“

S. 44: „In jedem System der Moral treten Fälle auf, in denen Pflichten eindeutig einander widerstreiten, und dies sind die eigentlichen Schwierigkeiten und Probleme sowohl für die ethische Theorie als auch für das gewissenhafte praktische Handeln. […]. Wenn die Nützlichkeit die letzet Instanz moralischer Verpflichtung ist, dann wird man sich auf die Nützlichkeit berufen dürfen, wenn zwischen unvereinbaren Ansprüchen zu entscheiden ist.“

S. 44 – 45: „Erinnern wir uns daran, daß es nur in Fällen eines solchen Konflikts zwischen Sekundärprinzipien nötig ist, an oberste Prinzipien zu appellieren.“

Anton Hügli/Byung-Chul Han, Utilitarismus. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 11: U – V. Basel : Schwabe, 2001, Spalte 504:
„Mill wendet sich zweitens gegen die direkte Anwendung des U.[tilitarismus] auf einzelne Situationen und Entscheidungen und empfiehlt die Anwendung von Regeln und Tugenden zur Bewältigung der häufigsten Alltagssituationen.“

Spalte 506: „Die weitere Diskussion des U.[tilitarismus] im 20. J[ahr]h.[undert] beruht vor allem auf der Unterscheidung zwischen Handlungs- U.[tilitarismus] (»act utilitarianism«) und Regel- U.[tilitarismus] (»rule utilitarianism«) bzw. zwischen extremen (»exterem utilitarianism«) und eingeschränktem (»restricted utilitarianism«) U.[tilitarismus]. Der Regel-U.[tilitarismus] entspricht der von Mill ins Spiel gebrachten indirekten Form des U.[tilitarismus], der Nutzenberechnungen nicht direkt auf die jeweiligen Entscheidungen anwendet, sondern auf Regeln, Institutionen und Tugenden, während der Handlungs-U.[tilitarismus] der einzelnen Handlung den logischen Vorrang gibt.

Peter Rinderle, John Stuart Mill. Originalausgabe. München : Beck, 2000 (Beck'sche Reihe : Denker ; 557), S. 86:
„Die Beurteilungsinstanz von Handlungen und Institutionen bleibt immer das Nützlichkeitsprinzip.

Die konkrete Anwendung des Nützlichkeitsprinzips gerade in moralischen Konfliktfällen ist aber Regeln unterworfen; Ausnahmen von diesen Regeln sind daher a priori nicht auszuschließen (U II, 25). Zu rechtfertigen sind diese Ausnahmen, wenn es um die Moral geht, aber nur durch andere Regeln. Nur um anderer, vorrangiger Regeln willen dürfen wir eine Regel verletzen (U V, 37; vgl. CW X, 183; […]). Die Verletzung moralischer Regeln erfordert also eine moralische Rechtfertigung, der Verweis auf den Gesamtnutzen ist dafür nicht hinreichend; in der Moral „ähnelt“ […] der indirekte Utilitarismus Mills somit einem Regel-Utilitarismus.“


paladin240679 
Beitragsersteller
 21.11.2011, 15:26

Hallo Albrecht, ich habe mir ale drei Antworten durch gelesen und durchgearbeitet. Waren alle sehr umfangreich und hilfreich. Danke

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Albrecht  08.11.2011, 04:51

Dominique Kuenzle/Michael Schefczyk, John Stuart Mill zur Einführung. Hamburg : Junius, 2009 (Zur Einführung ; 360), S. 128 – 143 unterscheiden zwischen zwei Bedeutungen:

1) These über das objektiv Richtige

Aktutilitarismus/Handlungsutilitarismus: Richtig ist eine Handlung, wenn sie das Glück hinreichend fördert.

Regelutilitarismus: Richtig ist eine Handlung, wenn sie einer glücksfördernden Regel entspricht.

2) These über das, wozu eine Person moralisch verpflichtet ist, das moralisch Gebetene

Aktutilitarismus/Handlungsutilitarismus: Moralisch geboten ist eine Handlung, wenn sie durch ihre Folgen das Glück größtmöglich befördert. Regelutilitarismus: Moralisch geboten ist eine Handlung, wenn die Handlungsregel, der sie einspricht, die größtmöglichen glückfördernden Folgen hat.

Die Person ergreift in beiden Fällen die Option, von der sie vernünftigerweise erwarten darf, daß sie Glück größtmöglich vermehrt.

John Stuart Mill hat in einem Aufsatz zu William Whewell die Auffassung geäußert, ein Attentat in weltverbessernder Absicht könne objektiv richtig sein, sei aber moralisch verkehrt. Ebenso lehnt Mill in einem Brief an John Venn Steuerbetrug moralisch ab.

S. 134 – 135: "Es gibt Stellen im Werk Mills, an denen er eindeutig im Sinne einer aktutilitaristischen Theorie des moralisch Gebotenen argumentiert. Er versucht in diesen Passagen, eine solche Theorie mit dem moralischen Common Sense zu versöhnen. Die von ihm benutzen Argumente sind aber erstens Ausweichmanöver; sie räumen nicht den gegnerischen Vorwurf aus der Welt, eine aktutilitaristische Theorie des moralisch Gebotenen habe kontraintuitive Implikationen; sie sind zweitens für sich genommen nicht überzeugend. Er handelt sich hierbei jedoch um eine exegetische und nicht um eine systematische Komplikation. Die Passagen, in denen Mill eine aktutilitaristische Theorie des moralisch Gebotenen favorisiert, lassen sich schmerzlos streichen. Die Stoßrichtung seiner Theorie des moralisch Gebotenen ist insgesamt regelutilitaristisch.“

Der erste Schritt bei Mills Utilitarismus sei eine Orientierung, welche abgeleitete moralische Regel in der gegebenen Situation einschlägig ist. Bei einem Konflikt mehrerer Prinzipien führe eine Anrufung der Nutzenregel zur Entscheidung.

S. 141: „Mill ist Aktutilitarist hinsichtlich der Theorie des »objektiv Richtigen«, aber Regelutilitarist hinsichtlich der Theorie des moralisch Gebotenen.“

2) Bezugspunkte zu Aristoteles

Ein Zusammenhang ist auch die Gemeinsamkeit eines Eudaimonismus bei Aristoteles und beim klassischen Utilitarismus. εὐδαιμονία (Glückseligkeit) ist das höchstes Gut und gilt als Ziel menschlichen Handelns.

Aristoteles vertritt außerdem eine Tugendethik. Dies ist ein Unterschied zum Utilitarismus, wobei Mill durch Abschwächungen von Benthams Ansatz sich einer Tugendethik wieder ein Stück weit annähert.

Der klassische Utilitarismus ist außerdem ein Hedonismus. Aristoteles hat weder einen Hedonismus noch einen Anti-Hedonismus vertreten, sondern eine differenzierende Position dazwischen. Lust ist nach Aristoteles ein Glücksbestandteil (Nikomachische Ethik 1, 5 1097 b 4 – 5). Das Gute und die Lust gehören zu dem, was um seiner selbst willen liebenswert ist (8, 2 1155 b 21 – 22). Die Lust ist aber nach Aristoteles nicht das höchste Gut. Nicht jede Form der Lust ist an sich wählenswert. Nicht jede Lust gilt Aristoteles als ein Gut (10, 2 1173 b 21; 10, 3 1174 a 3). Das Lustvolle ist ein anscheinendes Gut, das ein wirkliches Gut oder nur ein täuschendes Scheingut sein kann.

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Schau mal nach unter:

www.gutefrage.net/frage/utilitarismusfrage-handlungs-und-regelutilitarismus

Dort habe ich geschrieben:

Der Regelutilitarismus tendiert mehr in Richtung Kantscher kategorischer Imperativ. Das heißt, die Tatsache, dass man mit seinem Handeln bestätigt, dass ein einmal in der Sterbestunde gegebenes Versprechen "heilig" ist und nicht aus noch so begründeter Tagesaktualität gebrochen wird, würde nach Regelutilitarismus dazu führen, dass die Person ihr Versprechen hält. Sie kann das Krankenhaus ja aus eigenen, privaten Mitteln unterstützen.

Beim Handlungsutilitarismus, der aktueller bezogen ist, würde möglicherweise abgewogen, welche der Handlungen, evtl. auch Handlungskombinationen so ist, dass alle danach besser gestellt sind. Wie diese Entscheidung dann ausfällt, ist nicht feststellbar, weil das von den einzelnen Informationen abhängt und deren Bewertung. Dazu ist im Text zu wenig gesagt. Es wäre ja denkbar, dass der Segelclub leukämiekranke Kinder unterstützt und das Geld gern diesem Projekt zuführen würde. Sprich, es wäre zumindest zu prüfen, welche Verwendung das Geld finden würde, wenn es in Regie des Segelclubs gehen würde.

Persönlich halte ich diese Aufgabe für ein Prachtbeispiel lebensferner Schulphilosophie. Welche Form des in weltfremde Schubladen gesteckten Utilitarismus (als ob das immer so sauber trennbar wäre) zum tragen kommt, hängt doch ganz von der Lebenssituation ab.

Der Regelutilitarismus ist nahe bei Kant. Lies mal Kant zur Frage der Lüge. Da steht das Prinzip, die Regel höher als der Einzelfall. Was sind Versprechen am Totenbett noch wert, wenn sich keiner mehr dran hält und doch nach Einzelsituation handelt? Darum ist der Regelutilitarismus immer zuerst für die Regel und dann erst für die Anpassung an den Einzelfall (das im Gegensatz zu Kant, der keine Abweichung zulässt.). Der Regelutilitarismus legt großen Wert auf stabile, verlässliche Regeln, denn Vertrauen ist der Kitt der Gesellschaft. Eine Gesellschaft bricht auseinander, wenn es kein Vertrauen mehr gibt. Das schadet dann auch allen Krankenhäusern.

Der Handlungsutilitarimsus beurteilt den Einzelfall, wägt ab, welche Entscheidung für die Gesamtheit im direkten Vergleich zweier Handlungsalternativen besser wäre. Ich bin der Meinung, dass Handlungsutilitarismus regelutilitaristische Gedanken nicht außer Acht lassen kann, weshalb ich eine Trennung in Handlungsutilitarismus und Regelutilitarismus nicht sehr klug finde. Aber auch in der Philsosophie müssen Doktorarbeiten geschrieben werden, und so kommts: Für jede Doktorarbeit eine gelehrte Schublade und Unterschublade und so weiter, soviele Doktorthemen man halt braucht.

Evtl. ist auch die ausführliche Antwort von Albrecht interessant.

Definitiv lässt sich Mill in gar keines dieser Modelle einordnen. Mill selbst bezeichnete sich nicht als Regel-/ Handlungsutilitarist o.ä. Diese Konzepte wurden später entwickelt und dienen vor allem der Fassbarkeit. In der Philosophie gibt es keine anerkannte allgemeine Theorien, die, welche als solches gehandelt werden, sind meist nur für den Unterricht wirklich gut. Liest man Beispielsweise Mill, wird man bald bemerken, dass sich sein Denken zwar in weiten Teilen mit solchen Theorien (seine eigenen mit eingeschlossen) deckt, aber sie keineswegs völlig kongruent sind. Ich empfinde es als wichtig, dies stets im Hinterkopf zu bewahren. Ansonsten taucht man nie wirklich in die Philosophie ein.

Mill spricht in seiner Schrift "Der Utilitarismus" explizit von Glück, welches durch Handlungen befördert werden soll. Was unter diesem Glück verstanden werden soll, ist allerdings unklar; die Menschen haben ziemlich unterschiedliche Vorstellungen davon, was dieses Glück beinhalten soll. Um die Theorie aufrecht erhalten zu können, müsste man sich aber über die Bestandteile des Glücks einig sein. Der Handlungsutilitarismus nimmt im 20. Jahrhundert diese Kritik auf und geht stattdessen von Interessen aus, die befriedigt werden sollen. Dies ist also bereits ein Versuch, die Schwächen von Mills Formulierung des Utilitarismus zu verbessern. Der Regelutilitarismus ebenso, dieser spricht auch von Interessen.

Wir können aber natürlich Fragen, ob für Mill eher Regeln oder Einzelhandlungen im Zentrum standen, was dich wahrscheinlich auch speziell interessiert. Beides: Zentral sind Handlungsregeln, die als blosse Faustregeln zu betrachten sind: konventionelle Normen. Allerdings kann es in der praktischen Umsetzung in Einzelfällen immer Gründe für die Annahme geben, dass diese konventionellen Normen doch nicht die Tendenz haben, Glück zu befördern. Dann setzt die zweite Ebene, die der kritischen Reflexion, ein, wo diese konventionellen Normen (welche eben nur Faustregeln sind) revidiert werden. Als solches kann Mill als Zweiebenen-Utilitarist bezeichnet werden.

Mill vermeidet also geschickt diverse Probleme, da Ausnahmen in Einzelfällen ermöglicht werden, was z.B. bei Kant nicht der Fall ist. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Regeln im Lichte von Einzelhandlungen revidiert werden müssen, womit die Probleme, die ein Handlungsutilitarismus an sich hat, zum Tragen kämen, oder ob die Regeln durch andere Regeln ersetzt werden, womit die Kritik am Regelutilitarismus zum Tragen käme.

Zu Aristoteles: Den Schlüsselbegriff hast du bereits geliefert: eudaimonia. Alle Menschen streben laut Aristoteles das gute Leben (=eudaimonia), das Glück an. Für den Utilitarismus, wie ihn Bentham und Mill vertraten, ist das (grösste) Glück die Grundlage der Moral.

(Um noch auf einige Unterschiede hinzuweisen: Für Aristoteles sind es im wesentlichen die Tugenden, die das Glück konstituieren, im Fokus stehen gemeinschaftliche Akteure (in der Polis). Beim Utilitarismus steht hingegen die ganze Gesellschaft als Menge von Individuen im Fokus und das grösste Glück soll durch Handlungen realisiert werden, die die Tendenz haben, Glück zu befördern. Was moralisch richtig oder falsch ist bestimmt die Wirkung, die eine Handlung auf das Glück als Gesamtes hat.)