Grüne schlecht für untere und mittlere Schichten?

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Ich selbst habe auch ein wenig Schwierigkeiten mit den Grünen, obwohl ich ihre Ziele und Ansichten größtenteils Teile. Mein Problem ist, dass die Partei aus meiner Sicht die Verantwortung zu stark beim Individuum sieht. Damit verkennt die Partei meiner Meinung nach strukturelle und institutionelle Prozesse. Die von den Grünen vorgeschlagenen Gesetze sind meistens aus Schlüssen auf die Allgemeinheit gedacht. Beispielsweise dass jene, die eine Immobilie besitzen, automatisch zu den höher vermögenden Menschen gehören. Entsprechend finde ich es in der Koalitionsarbeit gut, dass die anderen Parteien die grünen Vorschläge - die per se richtig und gut sind - ein wenig abbremsen.
Da die Grünen eine Partei sind, die überwiegend von gebildeten Menschen gewählt werden - welche überwiegend auch einkommensstärker sind - ist hier leider manchmal wenig Verständnis und Rücksicht für und auf einkommensschwächere Familien und Menschen.

Ich persönlich bin daher auch eher bei den Linken angekommen. Die haben ebenso einen starken Fokus auf Umweltschutz und Klimafragen. Sie denken das alles jedoch stärker aus einer systemischen Perspektive und sehen die Notwendigkeit von wirtschaftlicher Veränderung sowie systemischer Veränderung. Dieses Prinzip ergibt für mich auch eher Sinn: zwing die Wirtschaft, klimafreundlich zu agieren und zu produzieren, und niemand wird klimaschädliche Produkte konsumieren. Das ist genau die umgedrehte Denkweise zu den Grünen. Beispiel Wärmepumpen. Die Grünen sagen "baut alle Wärmepumpen ein" und erwarten daraus, dass sich die Industrie anpasst und weniger Ölheizungen produziert. Ich halte es für sinnvoller, durch Subventionen und Sanktionen Anreize zu schaffen, dass die Industrie mehr alternative regenerative Heizmöglichkeiten unterstützt und klimaschädliche Heizmöglichkeiten - immer in der Industrie gedacht - sanktioniert. Geld ist die mächtigste Waffe der Welt, man wird kaum so schnell schauen können, wie die Firmen umstrukturieren werden. Dazu sollte man Anreize dafür schaffen, das vorhandene Personal umzulernen. Und damit werden klimafreundliche Produkte nach einer tatsächlich schwierigen Phase für ähnliche Preise wie aktuell klimaschädliche Produkte erhältlich sein. Klingt natürlich viel leichter als es ist, das ist mir klar, und würde genauso auf Widerstand in der Bevölkerung treffen, da dann das gute alte Totschlagargument ausgepackt wird "ja aber die Arbeitsplätze", etc. pp.
Die grundlegende Denkweise finde ich aber plausibler.

Grüne Energie kaputt Wirtschaft Sicherheit nein

Die ärmeren Schichten leiden seit Corona und vor allem seit Beginn des Krieges in der Ukraine unter der extremen Inflation bei Lebensmitteln, Drogerieartikeln und vielem mehr. Auch Energiekosten sind gestiegen.

Da kommen Ideen wie Fleisch teurer machen halt nicht an. Auch Sachen wie das totale Rauchverbot in der Gastronomie in NRW haben die Grünen durchgesetzt. In anderen Bundesländern gibt es wenigstens Ausnahmen. Die Grünen sind radikal und rigoros und haben zurecht den Ruf als Verbotspartei. Von der woken Identitätspolitik fange ich erst gar nicht an.

Die unteren Schichten kaufen nicht bei Alnatura ein. Und neben dem Finanziellen spricht viele Menschen aus der Unterschicht die gesamte Ideologie der Grünen nicht an.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Langjährige Erfahrung in der Parteipolitik und als Reporter

Es wäre interessant, mal darüber nachzudenken, was ein "grüner Lebensstil" ist. Im Grunde sollte das doch ein Lebensstil sein, der möglichst schonend mit Ressourcen umgeht. Da es eigentlich Ressourcen sein sollten, die Geld kosten, müsste man doch eigentlich davon ausgehen, dass ein finanziell sparsamer Lebensstil (zu dem untere und mittlere Einkommensschichten ja aus den Umständen heraus gezwungen sind) auch ressourcenschonend ist.

  • Mittlere und untere Schichten besitzen - wenn überhaupt - oft sparsamere Autos,
  • Sie essen nicht so aufwendige Gerichte, wenn ich meinen Ernährungsstil mit dem meiner sich sehr konservativ ernährenden Eltern vergleiche, sehe ich auch sehr viel Einsparpotential, wenn man ein bisschen auf "grün" bei der Ernährung achtet,
  • sie fahren nicht so weit und so oft in den Urlaub,
  • sie kaufen sich nicht so viele Klamotten
  • etc.

Das heißt: Nein, ich würde nicht sagen, dass Umweltbewusstsein schlecht für untere und mittlere Schichten ist.

Vielleicht sind diese Hürden eher herbeikonstruiert von Institutionen, die ein Interesse daran haben, dass möglichst große Teile der Bevölkerung möglichst viel konsumieren. Denn eins ist klar: Wenn ich mich an alles gewöhnt hätte, was mir die Werbung als notwendig vorgaukelt, dann wäre ein grüner Lebensstil durchaus ein Einschnitt.

Ist grüne Politik denn tragbar für Menschen mit geringem oder mittlerem Einkommen? Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit sind nicht immer ohne weiteres zu verbinden, weil Umweltschutz oft mit zusätzlichen Kosten verbunden ist, beispielsweise durch höhere CO₂-Preise, die sich auch auf Energiekosten oder Mobilität auswirken. Diese treffen dann Haushalte mit kleinerem Einkommen unverhältnismäßig stark, da diese im Verhältnis mehr von ihrem Einkommen für Grundkosten wie Heizung, Benzin oder Lebensmittel ausgeben. Die Grünen bemühen sich Lösungen zu schaffen, die finanziell schwächere Bürger entlasten. Sie setzen sich für soziale Ausgleichsmechanismen ein, wie etwa Förderungen für energetische Gebäudesanierungen oder den Ausbau von günstigeren öffentlichen Verkehrsmitteln. Es ist verständlich das viele Menschen, gerade aus den unteren Einkommensschichten befürchten, dass sie bei grüner Politik finanziell ins Hintertreffen geraten könnten. Hier könnte die SPD eine Alternative sein, die traditionell für soziale und arbeitsmarktbezogene Fragen sensibilisiert ist, was für viele Wähler mit ähnlichen Fragen attraktiv ist.

LG aus Tel Aviv

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Globalgeschichte/ internationale Politik