Frage zur Gründung des Deutschen Reichs

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Nation ist vom lateinischen Substantiv natio („Volk“, „Volksstamm“, „Sippe“), zurückgehend auf das Verb nasci („geboren werden“) abgeleitet. Im Mittelalter wurden Studenten nach Herkunftsgebieten in nationes eingeschrieben.

Zunächst gab es höchsten bei einem kleinen Teil der Gesellschaft einen Reichspatriotimus für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation (Sacrum Romanum Imperium Nationis Germanicae), aber so etwas wie eine nationale Identität längere Zeit nicht.

Die Auffassung, nach deren Begründung gefragt wird, bezieht sich offenbar darauf, wann ein bewußtes, willentliches Gefühl entstand, einer deutschen Nation anzugehören.

In Deutschland gab es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem in gebildeten Schichten zumindest in einem gewissen Umfang ein Nationalgefühl als Kulturnation (gemeinsame deutsche Kultur). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen so Anläufe zu einer nationalen Selbstfindung, deren Träger Angehörige der Bildungsschichten waren. Um eine eigentliche Nationalbewegung handelte es dabei allerdings noch nicht.

Diese begann sich dann im ausgehenden 18. Jahrhundert zu bilden, vorangetrieben von der Herausforderung durch die Französische Revolution (mit unterschiedlichen Reaktionen von Begeisterung bis Abscheu), den Revolutionskriegen und den Auseinandersetzungen mit Napoleon Bonaparte.

Ein einführendes Buch zum Thema:

Otto Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland : 1770 – 1990. Originalausgabe. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. München : Beck, 1996 (Beck'sche Reihe ; 494), S. 53 – 56 und S. 63 – 84

S. 52 - 53 (zu einer nationalen Bewußtwerdung reichsdeutscher Bildungsschichten): „Diese Deutsche Bewegung begann mit einem großen Erschrecken über den desolaten Zustand des Reiches, den die Kriege Friedrichs offenbar gemacht hatten. Dem deutschen Bildungsbürgertum wurde bewußt, daß es eigene, von den Fürsten unterschiedene nationale Interessen besaß. Man begann sie zu formulieren. Führend in dieser Richtung waren staatsrechtliche Publizisten, Friedrich Carl v. Moser vor allem, der in seiner Schrift ‚Von dem teutschen Nationalgeist‘ (1765) die Schwächen des Reiches schonungslos aufdeckte. „Wir sind ein Volk“, heißt es dort, „von Einem Namen und Sprache, unter Einem gemeinsamen Oberhaupt, an innerer Kraft und Stärke das erste Reich in Europa, dessen Königsthronen auf deutschen Häuptern glänzen, doch so, wie wir sind, sind wir schon Jahrhunderte hindurch ein Rätsel politischer Verfassung, ein Raub der Nachbarn, ein Gegenstand ihrer Spöttereien, uneinig unter uns selbst, unempfindlich gegen die Ehre unseres Namens, ein großes und gleichwohl verachtetes, ein in der Möglichkeit glückliches, in der Tat selbst aber ein sehr bedauernswürdiges Volk.“ Mosers Flugschrift löste eine breite Diskussion aus. Gleichzeitig wurde das nationale Thema von Dichtern und Schriftstellern aufgegriffen du auf vielfältige Weise umgesetzt. […]. Die Bewegung erreichte um 1770 ihren Höhepunkt; sie erfaßte das gesamte gebildete Publikum.“

S. 53: „Der Name Johann Gottfried Herder steht bis heute für die nationale Dimension dieser Bewegung. Herder erkannte und verdeutlichte die besondere Bedeutung der Sprache, der Literatur und der Geschichte für den Charakter und das Selbstbewußtsein eines Volkes. Er betrachtete eine Nation nicht nur von ihren politischen Repräsentanten, sondern auch vom Volke her: als eine Sprach- und Kulturgemeinschaft, die sich aus ihrer Geschichte erschließt. Angesichts des desolaten Zustands der adligen Reichsnation, die sich sogar von ihrer Muttersprache abgewandt hatte, kam es Herder darauf an, ein neues Nationalbewußtsein von unten her aufzubauen: über eine Rückbesinnung auf die Traditionen des Volkes, seine Kultur und seine Geschichte.“


Albrecht  08.12.2011, 02:01

S. 54 - 55: „Mit der Abwendung vom Normenkanon der französischen Klassik, der Hinwendung zu Shakespeare, der Entdeckung der Volkspoesie als der eigentlichen Nationalpoesie (Herders ‚Volkslieder‘), der Bevorzugung von Stoffen der germanischen Mythologie und der deutschen Geschichte gab man der deutschen Literatur eine neue Richtung. Im Kreis um Klopstock (‚Göttinger Hain‘) verfiel man dabei in eine Bardenlyrik, in Germanismus und Deutschtümelei und auch in ein nationales Pathos, das heute peinlich wirkt. Vieles ist nur zu verstehen als der unbeholfene Ausdruck eines neuen Erlebens. „Ich bin ein Deutscher! Stürzet herab der Freude Tränen, daß ich es bin!“ heißt es in Friedrich von Stolbergs Gedicht ‚Mein Vaterland‘ von 1774.

Dieser Patriotismus war nicht nur Pathos und Gefühl, er war auch Freiheitsbewußtsein und Wille zum Handeln. Er äußerte sich im Zusammenschluß zu patriotischen Vereinigungen und Gruppen, bei Klopstock sogar in dem ehrgeizigen Projekt einer nationalen Organisierung der Gebildeten als ‚Deutsche Gelehrtenrepublik‘ (1774). Viele neue Zeitschriften wurden gegründet, die ‚deutsch‘ im Titel führen (am bekanntesten bis heute Wielands ‚Teutscher Merkur‘). Mit ihnen wollte man über die akademischen Kreise hinaus ein größeres Publikum erreichen, in der Absicht – wie die Herausgeber des ‚Deutschen Museum‘ schreiben – ,„die Deutschen mit sich selbst bekannter und auf ihre Nationalangelegenheiten aufmerksamer zu machen“ und damit „der Nation eine mehr poltische Stimmung zu geben“.

„In der Deutschen Bewegung, deren Höhepunkt 1776 bereits überschritten war, konstituierten sich die Bildungsschichten innerhalb des Reiches als eine neue nationale Bewegung, die nicht mehr vom Adel und seiner französischsprachigen Literatur geprägt sein wollte.“

S. 55: „Die Deutsche Bewegung war noch keine Nationalbewegung im engeren Sinne; ihr fehlte ein konkretes politisches Programm, eine integrierende Aktion und eine dementsprechende Organisierung. Sie war jedoch ein wichtiger Vorläufer: eine nationale Selbstfindung der deutschen Bildungsschichten, ihre erste Verständigung über eigene kulturelle Interessen, soziale Anliegen und politische Ideale. Damit grenzten sich führende Schichten der bürgerlichen Gesellschaft erstmals deutlich ab von den adligen Führungsschichten, die innerhalb des Reiches bisher unbestritten die Nation repräsentierten. Sie setzten ihr ein neues Verständnis von der Nation entgegen, in dem ein emanzipatorischer Anspruch zum Ausdruck kam: die auf eigene Sprachkultur, Geschichte und den Menschenrechten beruhende Gemeinschaft der Nation. Obwohl die sich hier formierende moderne Nation von den Trägern des Reiches enttäuscht war, blieben ihre nationalpolitischen Erwartungen weiterhin auf das Reich ausgerichtet, speziell auf den Kaiser.“

S. 56: „Die reichsdeutschen Bildungsschichten fühlten sich als Kern und Avantgarde einer sich erneuernden Nation; sie mußten jedoch das Ausmaß ihrer politischen Ohnmacht immer wieder erkennen. Herder erarbeitete im Zusammenhang des Fürstenbundprojektes den Plan für eine nationale Akademie, ein ‚Institut für den Allgemeingeist in Deutschland‘. Doch dieser Plan blieb in der Schublade.“

Das von den Fürsten beherrschte Reich zeigte in der Zeit der Revolutionskriege und der Kriege mit Napoleon Bonaparte , wie es zu einer Verteidigung seiner Grenzen und einer Modernisierung seiner Verfassung nicht imstande war (auf einem Reichskongreß in Rastatt seit 1797 sollte durch eine einschneidende Gebiets- und Strukturreform eine neue Verfassung des Reiches gefunden werden, doch die Fürsten dachten nur an ihre eigene Zukunft).

Ein politisches, staatsbezogenes Nationalgefühl hat sich in Deutschland dann vor allem in Reaktion auf die Französische Revolution und Napoleon Bonaparte entwickelt. Es entstand eine Nationalbewegung, die in antinapoleonischen Widerstandsaktionen erstmals 1809 öffentlich deutlich sichtbar wurde. Eine Stimmung politischer Mobilisierung nahm zu.

Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte veröffentlichte beispielsweise 1808 „Reden an die deutsche Nation“ auf der Grundlage von in Berlin gehaltenen Vorlesungen. Ernst Moritz Arndt dichtete 1813 das Lied „Was ist des Deutschen Vaterland?“.

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Nana7xxx 
Beitragsersteller
 14.12.2011, 15:21
@Albrecht

Die Antwort war sehr hilfreich und informativ. Solch eine ausführliche Ausführung hatte ich gar nicht erwartet. :) Es freut mich, dass meine Frage für Gedankenanstöße & -anregungen sorgte.

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Wer hat dir denn den Unfug erzählt? Ich gebe Botanikus recht: das war der Beginn der Deutschen GEschichte - allerdings würde ich die Deutsche NAtion nicht so früh verorten! Im Mittelalter haben sich die Leute nicht als Deutsche gesehen - sonderns als Franken, Allemannen, Friesen, Sachsen usw

Es war eine graduelle Entwicklung in der frühen Neuzeit.


Skeggi  08.12.2011, 00:06

Das stimmt nicht. Die Entwicklung einer "deutschen Identität" begann bereits in den Koalitionskriegen ("Napoleon-Zeit").

Beispielsweise hatten Leute wie der Reichsfreiherr vom und zum Stein damals schon Pläne für ein "Großdeutsches Reich", allein schon um die Kontrolle über ganz Mitteleuropa und den Frieden zu sichern.

Aber auch unter den Soldaten bildete sich schon dieser "Gemeinschaftsgeist" heraus, da viele Verbände aus Männern von vielen verschiedenen deutschen Völkern bestanden, z.B. das lützowsche Freikorps, und natürlich vor allem wegen dem gemeinsamen Hass auf die Franzosen.

Hier beispielsweise ein Auszug aus einem Gedicht von Ernst Moritz Arndt:

Was ist das Deutsche Vaterland? So nenne endlich mir das Land! So weit die deutsche Zunge klingt Und Gott im Himmel Lieder singt, Das soll es seyn! Das, wackrer Deutscher, nenne dein.

Das ist das Deutsche Vaterland, Wo Zorn vertilgt den wälschen Tand, Wo jeder Franzmann heißet Feind, Wo jeder Deutsche heißet Freund, Das soll es seyn ! Das ganze Deutschland soll es seyn!

Nur eins von vielen möglichen Beispielen. Der Grundstein für ein Bündnis aller deutschen Staaten wurde schon 70 Jahre vor dem zweiten Reich gelegt. Ironischer Weise von Napoleon.

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findesciecle  08.12.2011, 03:53
@Skeggi

Also tut mir leid - bist du besoffen? Wo habe ich denn das Gegenteil behauptet? Ich habe gesagt: Graduell in der Frühen Neuzeit!

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findesciecle  08.12.2011, 04:02
@Skeggi

nochmal: mein "nicht so früh verorten", war doch, leicht zu erkennen, zu der Aussage von Botanicus zugerichtet, der das im frühen Mittelalter sah.

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KHLange  08.12.2011, 12:17
@findesciecle

Ich möchte es noch weiter vorverlegen; es hat, insbesondere in den Städten des Mittelalters hat es durchaus so etwas wie ein deutsches Reichsbewusstsein gegeben, das gilt auch für die Universitäten. Wandernde Minnesänger, Scholaren und Handwerksgesellen trugen dazu bei, dieses zu verfestigen. Man beachte nur einmal die flammenden Appelle eines Walther von der Vogelweide. Auch der zur frühen Neuzeit zu zählende Martin Luther hat sich nie als Sachse, sondern in erster Linie als Deutscher gefühlt. Darum ist es historisch nicht haltbar, den Beginn der Deutschen Nation ins frühe 19.Jahrhundert zu verlegen, ich würde es mit der endgültigen Trennung von Frankreich mit dem Aussterben der Karolinger beginnen lassen, wobei eine genaue Jahreszahl nicht anzugeben ist.

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Gabi40  08.12.2011, 14:28
@KHLange

Ein großartiger Kommentar lieber KHLange, bleibt nur zu hoffen, dass bei den unqualifizierten Kommentatoren in dieser Runde davon auch was hängen bleibt?

LG Gabi40

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findesciecle  09.12.2011, 02:58
@Gabi40

Quatschköpfe - Leute wie ihr kenne ich: Ihr habt Euer Wissen z.B. von WK2 Dokus von Höffkes.

Wobei ich mein Unmut eher gabi40 gilt: ich erinnere mich: vor Jahren mal behauptet: Deutschland würde immer noch Reparartionen an die Westmächte aus WK1 bezahlen..... wie gesagt Höffkes-Niveau.

Mit den Argumenten von Herrn Lange setz ich mich schon eher auseinander:
Warum habe ich wohl gesagt: "Frühe Neuzeit zunehmend" - ich hatte da Luther vor Augen! Er war aber seiner Zeit voraus, aber wie sich die protestantischen Fürsten gegenüber diesen Aussagen Luthers in den Jahrhunderten nach Luther positionierten muss ich ja nicht erwähnen.

Und jetzt zum M.A. - da erwähnen sie die Reichsstädte? Ich bitte Sie - kann doch nicht Ihr Ernst sein! Umdeutung nach Geschmack des 19. Jh. Walther von der Vogelweide - netter Dichter - aber unter den Begriff deutsch haben die Leute des Hochmittelalters etwas völlig anderes verstanden. Das wissen Sie wissen auch!

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Nach dem deutschen Sieg über Frankreich wurde der Preußenkönig Wilhelm I. am 18. Januar 1871 in Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen. Das Kaiserreich war eine konstitutionelle Monarchie, ein Bundesstaat aus 22 souveränen Fürstentümern und 3 freien Hansestädten. Preußens Vorherrschaft wurde deutlich: Der Deutsche Kaiser (zugleich preußischer König) ernannte den Reichskanzler, war Oberbefehlshaber des Heeres, berief Reichstag wie Bundesrat ein, während der Reichskanzler u.a. im Bundesrat den Vorsitz hatte. Da Preußen im Bundesrat 17 Stimmen hatte (für das Vetorecht genügten 14 Stimmen), konnte Preußen stets Verfassungsänderungen verhindern.

Quelle: Bertelsman Lexikon

Der Beginn der deutschen Geschichte wird mit der Reichsteilung unter den Nachfahren Karls des Großen angesetzt. Das ist ein wenig länger her.


KHLange  08.12.2011, 12:20

Naturwissenschaftler sind doch die besten Historiker! q.e.d. DH

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Gabi40  08.12.2011, 14:23

Eine kurze, schlüssige Antwort, über deren Wahrheitsgehalt nun die halbwissenden mit unqualifizierten Bemerkungen streiten! Von mir DH!

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gründung des reiches mit dem deutsch/österreichischen brüderkrieg? gehe mal zurück und auf google und gebe mal karl der Große ein. das deutsche reich gab es, zwar nicht in der form, schon früher.