Die richtige Interpretation des Höhlengleichnisses

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Das berühmte Höhlengleichnis, das Platon in seinem Werk »Politeia« (514 a– 521 b und 539 d – 541 b) geschrieben hat, ist nach im Text selbst gegebenen Hinweisen (517 a – 521 b und 532 a– 535 a) im Zusammenhang mit dem Sonnengleichnis (508 a – 509 d) und dem Liniengleichnis (509 d – 511 e) zu deuten. Dies kann als eine methodische Hilfestellung verwendet werden.

Der Zusammenhang ist eine nähere Erläuterung der Erziehung/Bildung (παιδεία [paideía]) der Philosophinnen/Philosophen. Das Höhlengleichnis verdeutlicht die Aufgabe, nach der eigenen Befreiung und einer Umwendung der Seele (ψυχῆς περιαγωγή Platon, Polteia 521 c) zur erhellenden Erkenntnis zu den noch in Unkenntnis befindlichen Menschen zurückzukehren.

Die Fesseln bedeuten das Verhaftetsein an Sinneswahrnehmung, einen Zustand mangelnden Wissens, der sich ausschließlich auf Sinneseindrücke zu stützen versucht und unkritisch darauf vertraut, die Wirklichkeit sei genau so, wie sie den eigenen Sinnen erscheint.

Es geht in dem Text vor allem um Sehen/Erkennen. Die Möglichkeit einer Erkenntnis der Wirklichkeit (Erkenntnistheorie) ist daher ein zentrales Thema. Weitere Gesichtspunkte sind damit nicht ausgeschlossen, sondern können auch untersucht werden:

  • die Beschaffenheit der Wirklichkeit/des Seienden (Ontologie), mit verschiedenen Seinsstufen
  • ethische Gesichtspunkte (Lüste und Begierden könnten hier untergebracht werden)
  • politische und pädagogische Gesichtspunkte

Bei dem Gleichnis können Entsprechungen angegeben werden:

a) die Höhle: Sie steht für das gewöhnliche Dasein der Menschen. Sie ist der Bereich der Sinneswahrnehmungen und der Beschränkung auf den Anschein bei einer Erfahrung. Das Umschließen symbolisiert die Begrenztheit, die Dunkelheit die mangelnde Klarheit und das fehlende Wissen.

b) die Gefangenen: Sie sind Menschen, die an den Anschein in einer Sinneswahrnehmung gefesselt sind. Ihre Lage ist ähnlich wie die der normalen Menschen („sie gleichen uns“). Sie sind einem einzigen Blickwinkel verhaftet (wegen der Fesselung können sie weder Kopf noch Rumpf drehen). Sie meinen aber, etwas zu wissen.

c) das Feuer: Es steht für die Sonne, die mit ihrem Licht das Sehen ermöglicht.

d) die Objekte (natürliche Gegenstände) in der Höhle: Sie stehen für Ideen, deren Abbilder sie sind.

e) die Schatten: Die Schatten von Figuren in der Höhle stehen für Abbilder von sichtbaren Gegenständen (Spiegelungen, Schattenbilder). Ethisch gesehen gehören dazu falsche Meinungen, z. B. über die Gerechtigkeit. Die Schatten in der Welt draußen stehen wohl für mathematische Gegenstände und Formen.

f) die Welt außerhalb der Höhle: Sie ist die Welt der Ideen, der Bereich des Denkbaren und mit der Vernunft Einsehbaren. Dort ist Erkenntnis möglich und Menschen können die Wahrheit entdecken.

g) die Sonne: Sie steht für die Idee des Guten.

Die Erkenntnis durchläuft folgende 4 Phasen (die 2 für den sichtbaren Bereich [ὅρατον γένος/ ὅρατος τόπος] gehören zur Meinung [δόξα], die 2 für den denkbaren Bereich [νόητον γένος/ νόητος τόπος)] zum Wissen [ἐπιστήμη] der Vernunft [νοῦς]):

1) Mutmaßung (εἰκασία)

2) Fürwahrhalten (πίστις)

3) hin- und herlaufendes (diskursives) Denken (διάνοια)

4) einsehendes Denken (νόησις)

Es gibt nach platonischer Auffassung bestimmte Schwächen/Anfälligkeiten der Sinneswahrnehmung bzw. einer zu unkritischen Überbelastung mit Leistungen, für die sie angeblich alleine schon eine ausreichende Grundlage ist:

a) Bei der Sinneswahrnehmung können Sinnestäuschungen vorkommen.

b) Bei einer einzelnen Sinneswahrnehmung kann eine Blickverengung/eine Fixierung auf eine einzige Perspektive zu einer falschen Gesamtbeurteilung führen.

c) Die Sinneswahrnehmung kann etwas an Einzeldingen erfassen, aber sie neigt zu unmittelbarer Verallgemeinerung, ohne einen Sachgehalt (etwas Bestimmtes in seiner Sacheinheit) richtig zu erfassen. Dies leistet erst begriffliches Denken. Bei den Dingen gibt es etwas, das seinem Wesen nach zur Sache selbst gehört, und etwas, das nicht dazugehört (bei einem Tisch können z. B. Form und Material unterschiedlich sein, aber es gibt eine Grundfunktion bei jedem Tisch, etwas daraufstellen zu können). Die Sinneswahrnehmung gewährleistet keine angemessene Unterscheidung dazwischen. Platon will nicht die Sinneswahrnehmung als Mittel beseitigen und empirische Wissenschaft abschaffen, sondern auf die Beschränktheit eines einzelnen Sinneseindruckes hinweisen. Die Sinne sind für das Unterscheiden in der Wahrnehmung zuständig. Es geht ihm darum, für Erkenntnisse die Sinneswahrnehmung durch Denken zu erweitern.


Albrecht  03.03.2014, 04:29

Der philosophische Weg ist zunächst der Aufstieg in den Bereich des Denkbaren, in die Welt der Ideen, und das Gewinnen von Erkenntnis, dann die Rückkehr/der Abstieg in die Höhle zu den ehemaligen Mitgefangenen, die noch an den bloßen Anschein des Gesichtssinns gefesselt sind, und ihre Befreiung durch Vermittlung des Wissens. Dieser Versuch ist mit Schwierigkeiten verbunden (bis hin zu der Gefahr, getötet zu werden). Der Aufstieg philosophisch Veranlagter ist aber für Platon die Bedingung der Möglichkeit der Befreiung von Staaten als ganzer aus Übeln/einer schlechten Lage und einer Umsetzung des von ihm dargestellten gerechten Staates (vgl. das Zusammenkommen von Macht und Philosophie Politeia 473 d – Philosophen werden Könige oder Könige oder andere Machthaber befassen sich gründlich mit Philosophie - als größte von drei Fragen, die wie hereinbrechende Wogen sind).

Platon nimmt bei gewöhnlichen Menschen/den meisten keine Befreiung aus bloßer Eigeninitiative an. Einzelnen mit besonders großen Fähigkeiten kann eine Neuorientierung aus eigener Kraft gelingen. Die meisten Menschen sind nicht so begabt und bedürfen eines Anstoßes und einer Unterstützung von außen. Der Übergang erfordert in beide Richtungen Vorsicht und Behutsamkeit, weil die Menschen ohne richtige Erkenntnis sich an ihren Zustand gewöhnt haben und erst einmal kaum etwas verstehen (der Gewinn, den Philosophie bringen kann, ist für sie nicht offensichtlich) und die Umgewöhnung anstrengende und unangenehme Seiten haben kann, auch für die zu Einsichten Vorgedrungenen bei einer Rückkehr zu Verhältnissen ohne ausreichende Erkenntnis, die Welt des Scheins. Platon begründet diese Aufgabe und damit eine Hinwendung auch zur Praxis mit dem Glück der Gesamtheit, auf das es ankommt.

Erkenntnistheorie und Ethik

Philosophen vereinigen geistige und praktische Fähigkeiten (484 a – 485 a). Wer echte Erkenntnis des Guten hat, wirkliche Einsicht, handelt nach Platons Überzeugung auch gut. Für wahrhafte Philosophen ist Machtausübung kein Selbstzweck.

Die Erkenntnis der obersten Idee, der Idee des Guten, die nach der vor allem mündlich vorgetragener Prinzipienlehre Prinzip der Einheit/des Einen (ἕν) ist, kann nach Platon dazu befähigen, für Einheit und Ordnung in der Seele der Mitmenschen und im Staat zu sorgen und dadurch zu Glück und richtigem Handeln beizutragen (502 d – 506 b).

Lüste und Begierden werden in starkem Ausmaß durch Sinneswahrnehmung wirksam (Sinneseindrücke, Empfindungen, anschauliche Vorstellungen). Es gibt hier eine Verbindung von Erkenntnistheorie und Ethik. Bei der Begierde kann es vorkommen, von ihr gefangengenommen zu werden, auf einen bestimmten begrenzten Ausschnitt mit einem Anschein fixiert zu sein. Hier kann auf Platon Seelenlehre/Psychologie Bezug genommen werden. Es gibt in der Seele (vgl. besonders Politeia 435 – 445):

1) das Vernünftige (τὸ λογιστικόν)

2) das sich Ereifernde (τὸ θυμοειδές) [(gemeint ist nicht wütend sein, sonder eher etwas wie engagiert sein]

3) das Begehrliche (τὸ ἐπιθυμητικόν)

Alle Seelenteile/Arten der seelischen Ausrichtung/seelische Strebeformen haben ein Eigenrecht. Begierden sollen nicht die Leitung übernehmen und nicht die Vernunft bloß als dienendes Hilfsmittel ohne Kontrollfunktion benutzen. Sie sind dafür anfällig, sich von einem Anschein täuschen zulassen („blind“ vor Begierde) und das Gute, auf das gezielt wird, nicht zu erreichen. Das Begehrliche hat aber eine Zuständigkeit und das Vernünftige ist nicht dafür da, ein Lustgefühl wahrzunehmen, festzustellen (etwas fühlt sich angenehm an) und zu melden.

Mathematik

Im Höhlengleichnis für sich genommen spielt Mathematik kaum eine Rolle, dagegen wird sie im Liniengleichnis angesprochen. Mathematische Gegenstände gehören zum denkbaren/geistig erfaßbaren Bereich, sind dort aber eine Stufe unter den Ideen angesiedelt. Das hin- und herlaufendes (diskursives) Denken (διάνοια) des Verstandes ist bei ihnen kennzeichnend. Mathematik kann zum denkbaren/geistig erfaßbaren Bereich hinführend sein und zum Einüben bestimmter Denkmethoden beitragen.

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Albrecht  03.03.2014, 04:30

abstraktes Denken

Für auf Ideen gerichtete Erkenntnisversuche ist einsehendes Denken (νόησις) kennzeichnend. Dabei wird etwas Allgemeines erschlossen, aber es handelt sich nicht um eine inhaltlich dürre Abstraktion, sondern ein abstraktes Denken, das etwas Bestimmtes in der Fülle der für es wesentlichen Bestimmtheiten erfaßt.

Zu beachten ist also, daß es zwei unterschiedliche Arten des Allgemeinen gibt. Es gibt in der Erkenntnissuche ein Allgemeines, das ein Zusammenfassen verschiedener Merkmale zu einer Einheit darstellt, unter Fernhalten dessen, was nicht dem Wesen nach zu dieser Sache gehört. Dies kann richtig vorgenommen ein inhaltsreiches Erfassen von etwas in der Fülle seiner Bestimmtheiten sein. Andererseits steckt in der Wahrnehmung eine Neigung, zu einem unbestimmten Allgemeinen hinsichtlich der Einzeldinge zu kommen, etwas Einzelnes unmittelbar als etwas Allgemeines aufzufassen. Die Wahrnehmung hat zwar einen Bezug zu einem konkreten Einzelding, aber der Denkinhalt ist in diesem Fall allgemein, ohne gut zu unterscheiden, was an Informationen zu dem Wahrgenommenen zu dem Allgemeinen einer Sacheinheit wirklich gehört und was nicht (Platon thematisiert sich daraus ergebende Widersprüche und Unstimmigkeiten, z. B. Politeia 478 e- 479 c). Insofern kann nach platonischem Deutungsansatz ein abstraktes und konfuses (verworrenes und zusammengemischtes) Erkennen der Einzeldinge bei einem Wahrnehmen auftreten, bei dem nicht begriffliches Denken der Vernunft/des Verstandes hinzukommt. Wahrnehmbares und Begreifbares in der Erkenntnis des Einzelnen selbst ist zu unterscheiden. Vgl. dazu: Arbogast Schmitt, Platonismus und Empirismus. In: Gregor Schiemann/Dieter Mersch/Gernot Böhme (Hrsg.), Platon im nachmetaphysischen Zeitalter. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft : Darmstadt, 2006, S. 71 – 95

Bei der Deutung helfen Bücher über Platon (jede Gesamtdarstellung geht auf das Höhlengleichnis ein) und speziell zu seinem Werk »Politeia«, z. B.:

Michael Erler, Platon. Originalausgabe. Beck : München, 2006 (Beck`sche Reihe: bsr - Denker; 573), S. 92 - 94

Michael Erler, Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Herausgegeben von Helmut Holzhey. Die Philosophie der Antike - Band 2/2). Schwabe : Basel ; Stuttgart, 2007, S. 401 - 402

Thomas Alexander Szlezák, Das Höhlengleichnis (Buch VII 514 – 521 b und 539 d – 541 b). In: Platon, Politeia. Herausgegeben von Otfried Höffe. 2., überarbeitete Auflage. Berlin : Akademie-Verlag, 2005 (Klassiker auslegen ; Band7), S. 205 – 228

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Bor das ist viel zu lange her :D

Aber die Menschen werden ja zuerst gefangen gehalten und das einzige was sie was sie zu sehen bekommen sind die Abbildungen der Schatten von z.B. Tontöpfen an der Wand vor ihnen, sie tragen Scheuklappen und können die anderen in der Höhle nicht wahrnehmen.

Das soll Menschen zeigen, die Aufgrund von inneren, oder vielleicht auch äußerlichen Umständen ein beschränktes Verständnis für die Welt haben und sie werden auch in Zukunft kein größeres entwickeln, denn sie werden in ihrer eigenen Welt gefangen gehalten und werden sich auch nicht weiterentwickeln, da es keinen Impuls gibt, der sie vorantreibt und sie können sich nichts anderes vorstellen, weil sie es nicht kennen.

Dann wird einer dieser Menschen herausgezerrt, was schmerzhaft für ihn ist, das Licht tut ihn in den Augen weh, die Eindrücke sind zu viel. Das soll symbolisieren, dass Veränderungen schmerzhaft sind und die Entwicklung zum positiven schwer, man muss was investieren, wenn man seine Perspektive verbessern möchte. Und es ist häufig ein Impuls von außen nötig.

Danach ist er Glücklich auf Grund der Veränderung, er ist zu tieferer Einsicht gelangt und kehrt an den Ort zurück, wo er den anderen von Seiner Erfahrung berichten kann. Das soll heißen, dass Veränderungen gut für einen Menschen sind und wenn du selbst zur Einsicht gelangst, kannst du dazu beitragen anderen zur Einsicht zu verhelfen und somit nicht nur dein Weltbild zu erweitern sondern deren ebenfalls.

Traditionell wird das HG in den Bereicht Erkenntnistheorie gesteckt. Von daher wird das Verhalten der Gefesselten als naiver Glaube an die unmittelbaren Sinneseindrücke gedeutet. (Die Welt ist so, wie sie uns durch die Sinne erscheint). Für eine Interpretation im Bereich der Ethik (Lüste und Begierden und wie wir damit umgehen), gibt der Text zunächst wenig Anhaltspunkte. Das richtige Verhalten, dass der Text nahelegt, liegt m.E. darin, nicht blind den Sinnen zu vertrauen, sondern die hinter den Dingen verborgene Wahrheit zu erkennen (Platon nennt das die Ideen). Mathematik im heutigen Sinne spielt im HG, soweit ich mich erinnere, keine ausdrückliche Rolle. Indirekt daber schon, weil das abstrakte Denken durch Platon abgefeiert wird, und die Realtiät oder das Konkrete eher abgewertet wird.

Texte leben aber von der Interpretation, wenn du deine Sichtweise auf den Text gut begründen kannst, dann gibt es keinen Grund nicht in die ethische Richtung weiterzudenken.