Als Uigure, der in der Region aufgewachsen ist, kann ich sagen: Es ist keine einfache Frage. Es gibt viele historische, kulturelle, geopolitische und andere Hintergründe. Aber eines ist klar: Es geht nicht um den Islam an sich – immerhin leben ca. 40 Millionen Muslime in China. Dennoch sind speziell die Uiguren in Ostturkestan (Xinjiang) besonders betroffen. Ähnliches gilt auch für Tibet und die Innere Mongolei.
Ich denke, der Hauptgrund liegt darin, dass China kein demokratisches Land ist. Die Regierung versucht, alle Probleme mit Druck und Kontrolle zu lösen, statt durch Dialog. Und wenn es keinen Dialog gibt, kommt es früher oder später zu Spannungen und Menschenrechtsverletzungen – das gilt übrigens nicht nur für Uiguren oder Tibeter, man denke nur an das Tian’anmen-Massaker.
Ein gutes Beispiel: Ilham Tohti (Quelle) und seine Studenten gründeten eine Plattform, um Brücken zwischen Han-Chinesen und Uiguren zu bauen – trotzdem wurde er verhaftet und hart bestraft.
Historisch und politisch wurden sowohl Tibet als auch Ostturkestan während der Mandschu-Dynastie (Qing-Reich) erobert. Nach dem Zerfall der Sowjetunion erhielten viele turksprachige Nachbarstaaten der Uiguren ihre Unabhängigkeit – das weckte natürlich auch bei den Uiguren Hoffnungen auf ein eigenes unabhängiges Land, ähnlich wie bei den Kurden im Nahen Osten.
Viele Uiguren sind unzufrieden, weil ihre Autonomierechte laut chinesischer Verfassung in der Praxis kaum umgesetzt werden. Ihre Sprache, Kultur, Religion und grundlegenden Menschenrechte werden systematisch unterdrückt. Sie fühlen sich assimiliert, überwacht und diskriminiert – was natürlich zu Frust und Spannungen führt.
China erlaubt wie viele Staaten keine Abspaltung. Doch das Problem ist, dass dort jegliche Unzufriedenheit schnell mit Separatismus oder Terrorismus gleichgesetzt wird. Das sorgt für eine Spirale aus Misstrauen, Repression und Gewalt, die sich immer weiter dreht.
Aus Sicht der chinesischen Regierung liegt die Ursache in den sogenannten „drei bösen Kräften“ (三股势力): Terrorismus, Separatismus und religiösem Extremismus. Deshalb versucht die Regierung durch demografische und geopolitische Maßnahmen die Kontrolle zu sichern – in Ostturkestan ist der Anteil der Han-Bevölkerung z. B. von 2–4 % auf fast 42 % gestiegen (Quelle). Viele Uiguren fühlen sich dadurch zur Minderheit im eigenen Land gemacht. Die neuen Han-Chinesen profitieren wirtschaftlich deutlich mehr, während die lokale Bevölkerung benachteiligt wird. Das Misstrauen der Regierung gegenüber der uigurischen Bevölkerung verschärft das Ganze noch zusätzlich.
Seit dem Projekt „One Belt, One Road“ gilt Xinjiang als Schlüsselregion. Die Regierung unter Xi Jinping hat klar gemacht, dass sie „Normalisierung“ und „Assimilation“ fordert (Quelle), deswegen hat China die Umerziehungslager angefangen – und viele Maßnahmen, z. B. die „Umerziehung“, sind dokumentiert, u. a. in den Xinjiang Police Files. Selbst loyale Kommunisten unter den Uiguren wurden in Lager gebracht (Quelle).
Wie gesagt: Die Ursachen sind vielfältig. Ostturkestan (Xinjiang) ist heute eines der „schwarzen Löcher“ in China – weder Journalisten noch unabhängige Beobachter haben freien Zugang, das Internet ist streng kontrolliert.
Wir haben immer gehofft, dass mit einem demokratischen China auch unsere Probleme sich eines Tages lösen könnten. Aber es sieht so aus, als müssten wir diesen Traum wohl noch ein paar Jahrzehnte länger träumen…