Es war nicht "der Berliner Senat". Es gab nie eine Entscheidung der Senats, dass Kinder an Pädophile vermittelt werden sollen.
Kentler war damals Leiter der Abteilung Sozialpädagogik des Pädagogischen Zentrums Berlin. Das Projekt startet wohl 1969.
In der Studie „Die Unterstützung pädosexueller bzw. päderastischer Interessen durch die Berliner Senatsverwaltung“ von 2015 wird eine Aussage Kentlers aus dem 1979 erschienenen Sammelband „Sexualität. Materialien zur Sexualforschung“ zitiert:
Nach unseren Vorstellungen kann Heranwachsenden nichts Schädlicheres geschehen, als in eine sexuelle Beziehung zu einem Erwachsenen verwickelt zu werden. Daß trotz zahlreicher Untersuchungen bisher nie die erwarteten schädlichen Folgen bei Kindern oder Jugendlichen festzustellen waren, vermag unsere feste Abwehrhaltung nicht zu erschüttern, und damit wird verhindert, dass womöglich positive Folgen auch nur gedanklich erwogen werden können, ganz zu schweigen davon, dass die längst vorhandenen guten praktischen Erfahrungen wissenschaftlicher Erforschung zugänglich gemacht würden.
Der Beginn des Projekts wurde von Kentler in der Zeitschrift konkret aus dem Jahr 1980 geschildert:
Vor 11 Jahren – ich lebte damals in Berlin in einer Wohngruppe – wurde mir der 13jährige Ulrich gebracht, weil man hoffte, ich würde ihn aufnehmen. Ein Zimmer wäre frei gewesen – aber ich gestehe, dass ich den Jungen nur kurze Zeit ertragen konnte. Er was schwer schwachsinnig. Er redete unkonzentriert, ganz seinen Assoziationen folgend, daher. Er wich einem nicht von der Seite und benahm sich unbeholfen, läppisch. Ulrich war seit seinem vierten Lebensjahr in verschiedenen Heimen gewesen. Vor vier Monaten war er abgehauen, und nin war er ‚auf Trebe‘ (er trieb sich alleine auf sich gestellt herum). Sein Stammplatz war der Bahnhof Zoo. Er „arbeitete“ als Stricher, teils, weil er dadurch Essen, oft auch ein Bett bekam, teils aber auch, weil es ihm Spaß machte, „Männer aufzureißen“ („Da fühl‘ ick mich ma so überlejen“, sagte er). Die Heimerziehung hatte es nicht geschafft, ihm Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Er konnte nicht einmal die Uhr lesen. Dafür, dass er schon so lange unterwegs war, sah er erstaunlich gepflegt aus, und er war gut und sauber angezogen.
Was sollte ich mit dem Jungen machen? Ich kam darauf, ihn zu fragen, wo er am liebsten hingehen würde, ob er jemand kenne, bei dem er gern wohnen würde. Zu meiner Überraschung fing er sofort an, von „Mutter Winter“ zu schwärmen. Herr Winter war Hausmeister in einem großen Wohnblock. Die Jungen vom Bahnhof Zoo kannten ihn alle. Er hatte immer ein bißchen Essen für sie, man konnte bei ihm rumsitzen, während einem seine Maschine die Wäsche wusch, und auch zum Schlafen konnte man zu ihm kommen, sogar dann, wenn man keine Lust hatte, mit ihm zusammen in deinem Bett „zu schlafen“. Ich sagte mir: Wenn die Stricher diesen Mann „Mutter“ nennen, kann er nicht schlecht sein.
Mutter Winter war bereit, Ulrich aufzunehmen. Das Jugendamt richtete bei ihm eine Pflegestelle ein, so dass er für Ulrich Pflegegeld bekommen konnte. Ich besuchte die beiden zweimal die Woche, um die Probleme zu besprechen, die zwischen ihnen entstanden. Ulrich war vier Jahre bei Herrn Winter. Er zog aus, weil er angefangen hatte, sich für Mädchen zu interessieren, und das konnte Herr Winter nicht tolerieren. Aber bis dahin hatte Ulrich Riesen-Fortschritte gemacht. Er konnte – wenn auch nur sehr fehlerhaft – schreiben, er las einfache Texte, beispielsweise Comics, er konnte die Uhr lesen, und er achtete beim Einkaufen darauf, dass das Wechselgeld stimmte.
Seit fünf Jahren arbeitet Ulrich als Hilfsarbeiter in derselben Stelle, und er ist wegen seiner Zuverlässigkeit sehr beliebt. Seit zwei Jahren ist er fest mit einem Mädchen befreundet. Sie „Schwiegereltern“ mögen ihn, und Ulrich ist auch gern bei ihnen. Wenn ich Ulrich heute besuche, sitze ich keinem Schwachsinnigen gegenüber, sondern einem Kerl, der sein Leben selbstbewusst und selbstständig führt. Ich kann diese Geschichte heute berichten, weil die Straftaten, die alle Beteiligten begingen, inzwischen verjährt sind. Ulrich und ich haben Glück gehabt. Ulrichs Vorteil war, dass er gut aussah und dass ihm Sex Spaß machte; so konnte er pädophil eingestellten Männern, die sich um ihn kümmerten, etwas zurückgeben. Wir haben Glück gehabt mit Herrn Winter. Aber sicher haben meine regelmäßigen Besuche positiv gewirkt. Denn Beziehungen zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden leiden häufig darunter, dass sie sich tarnen und verbergen müssen. Ich war ein Außenstehender, vertrat kontrollierte Öffentlichkeit und war als eine Instanz akzeptiert, vor der Herr Winter bereit war, sich zu verantworten.
Ehe ich mich an diesen Beitrag machte, habe ich gelesen, was heutzutage von Wissenschaftlern über Pädophilie geschrieben wird. Ich stehe dazu in einem Widerspruch. Ich will die Pädophilie nicht austreiben, sondern ich frage: Welche Schäden fügen wir uns, vor allem den Kindern und Jugendlichen, zu, wenn wie eine Sexualisierung der Beziehungen zwischen den Generationen unter allen Umständen zu verhindern versuchen.
Im Jahr 1981 berichtete Kentler in einem Arbeitskreis der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag wie folgt:
Vor einiger Zeit habe ich von einem ganz anderen Experiment in Berlin berichtet, am dem ich beteiligt zu sein um 1970 anfing. Ich arbeitete damals mit ehemaligen Fürsorgezöglingen, die an sekundärem Schwachsinn litten. Ich habe schon gesagt, worum es sich da handelt: um einen Schwachsinn, der durch Vernachlässigung in Heimen oder bei schlechten Pflegeeltern entstanden ist. – Sie waren zwischen 13 und 15 Jahre alt. Die meisten konnten nicht lesen und nicht schreiben; die meisten konnten noch nicht einmal die Uhr lesen. Teilweise gelang es, diese Jungen bei Päderasten unterzubringen. Das waren meist sehr einfach strukturierte Leute, vor allem Hausmeister, in einem Falle ein Trödler. Diese Leute haben diese schwachsinnigen Jungen nur deswegen ausgehalten, weil sie eben in sie verliebt, verknallt und vernarrt waren. Wir haben diese Beziehungen sehr intensiv betreut und beraten, also in diesen Fällen die Supervision geleistet. In allen Fällen sind diese Jungen heute fähig, ihren Lebensunterhalt selbstständig zu verdienen, und – auch dies wieder nur nebenbei – kein einziger von ihnen ist homosexuell geworden.
Es gibt andere, spätere Schilderungen Kentlers (die man ebenfalls im Abschlussbericht nachlesen kann), die in Hinblick auf die Zeitdauer, Anzahl und Alter der Jungen und auch die Rolle Kentlers im Projekt abweichen. So war in einer Darstellung im Jahr 1988 von Jungen im Alter von 15 bis 17 Jahren die Rede. Teils stellte sich Kentler als Initiator, teils als lediglich Mitwirkender dar.
Kentler war sich der aufgrund des Zeitgeistes gestiegenen Brisanz wohl bewusst und hat unzulässigerweise die „Wahrheit“ über einzelne Details situativ ein wenig angepasst, was die Glaubwürdigkeit im Detail schmälert. Die Schilderungen aus den Jahren 1980 und 1981 sind allerdings die zeitlich nächsten und für Kentler im Rückblick ‚peinlichsten‘, also wohl auch die zuverlässigsten Berichte zu den Vorkommnissen.
Aktenkundig ist zu dem Modellversuch fast nichts (siehe Abschlussbericht S. 75 ff). Man geht von drei teilnehmenden Jungen an dem Projekt aus. Keiner davon war im Zusammenhang mit der Untersuchung des Kentler-Projekts für den Bericht gesprächsbereit.
Es gab lediglich einen Kontakt zu einem Bekannten von Ulrich, mit der Hörensagen-Aussage: „Das Projekt habe ihm dabei geholfen, für sich selbst ein Stück materielle und soziale Sicherheit zu schaffen, die ihn auch ein Stück zufriedener mit sich selbst hat werden lassen und ihm geholfen hat, kriminelles Verhalten und Drogenkonsum abzulegen und weder seine Beziehungen zu zerstören, noch seine Frau zu schlagen. Aber er ist trotzdem ein leidender Mensch geblieben.“ (siehe Seite 78 des Berichts)
Bei den anderen beiden Jungen soll es laut Hörensagen weniger gut ausgegangen sein. Sie sollen aus dem schädlichen Milieu der Stricher, Drogenabhängigen, Kleinkriminellen und Gewalttätigen, dem Umfeld der „Kinder vom Bahnhof Zoo“, „nicht rausgekommen“ sein.
Meine Bewertung
Ich denke, dass es sich bei Kentler um eine charismatische Persönlichkeit handelte, die überzeugen und begeistern konnte. Er hatte eine verantwortliche Position, hatte einen guten Leumund, galt als hervorragender und fortschrittlicher Pädagoge. Er lieferte plausibel klingende Begründungen in einer Zeit, die offen für neue Ideen war, in der man progressiv sein wollte und er schien Erfolge präsentieren zu können.
Es gab aber nie einen Beschluss des Berliner Senats im Sinne: "wir genehmigen ein Programm, mit dem Jungen an Pädophile / Päderasten vermittelt werden". Die Vorgänge spielten sich nicht auf Parlamentsebene oder Regierungsebene ab, sondern auf Verwaltungsebene. Dort war Kentler gut vernetzt und wusste zu überzeugen.
Für mich stellt es sich so dar, dass die Aufsicht versagt hat. Wer, was, wann wusste ist aber nicht mehr rekonstruierbar. Ich vermute, dass da auch ganz gezielt Akten vernichtet und Spuren beseitigt wurden. Allerdings vermute ich auch, dass die Leute, die bei der Aufsicht versagt haben, keine bösen Motive hatten, sondern eingewickelt oder eingelullt wurden.
Mit anderen Worten: ich gehe von menschlichem Versagen aus, das dann aber vermutlich in illegaler Weise vertuscht wurde.