Die Rolle der Carmen wurde für die Entstehungsgeschichte entscheidend. Die Persönlichkeit dieser Figur war dazumal einzigartig: eine unbezähmbare Frau, erotisch, temperamentvoll und dazu noch eine Fabrikarbeiterin. Darüber hinaus vulgär und rebellisch statt romantisch und geduldig. Kurz: das exakte Gegenteil, was man vom Verhalten einer Frau im späten 19. Jahrhundert erwartete. An ihr entzündete sich im Vorfeld der Uraufführung eine hitzige Debatte. Als die Theaterleiter realisierten, was für ein «Monster» auf sie zukam, versuchten sie die den Verlauf der Dinge zu verändern. Aber es war zu spät. Selbst die geplante Hauptdarstellerin weigerte sich die Rolle zu singen. In der Person von Célestine Galli-Marié konnte kurzfristig ein geeigneter Ersatz gefunden werden. Die Wahl der Sängerin war und ist für den Erfolg entscheidend. Die Rolle ist sehr anspruchsvoll, sie erfordert eine erotische Ausstrahlung, grosse Singkunst, verführerische Tanzkunst und schauspielerische Fähigkeiten. Galli-Marié machte es Bizet nicht einfach, er muss für sie die Auftrittsarie 13-mal verändern.
War die Entstehungsgeschichte nur schon wegen der Rolle der Carmen schwierig, kamen auch noch große Probleme mit dem Chor hinzu. Bizet erwartete vom Chor szenische Präsenz, doch er beklagte, dass die Chorsänger nicht viel mehr gewohnt waren als zu singen und herumzustehen. Trotz den mehr als hundert Proben musste Bizet einige Passagen streichen, um eine geordnete Durchführung der ersten Aufführungen sicherzustellen. Die Uraufführung erfolgte im März 1875. Der erste Akt wurde freundlich aufgenommen. Doch je länger das Werk dauerte, umso frostiger wurde die Atmosphäre im großen Saal der Opéra Comique. Es war zu viel für das konservative Publikum. Ein Kritiker schrieb über die Hauptdarstellerin: «Zu sehen, wie sie mit den Hüften schaukelte, wie ein Stutenfohlen auf einem Zuchtgestüt in Cordoba – quelle vérité, mais quel scandale» (Abbate/Parker, «eine Geschichte der Oper»). Auch die New York Times schrieb eine vernichtende Kritik: «Als Kunstwerk ist diese Oper absolut nichtig». Einzig Tschaikowsky schrieb nach Hause: «Und wie herrlich ist dieser Opernstoff! Ich bin überzeugt, dass Carmen in zehn Jahren die populärste Oper der ganzen Welt sein wird.»
aus: https://opera-inside.com/carmen-von-georges-bizet/?lang=de
lg