Die Erbanlagen steuern in allen Organismen alle Lebensvorgänge, auch deren Entwicklung. Dabei sorgen regulatorische Vorgänge dafür, dass je nach Bedarf bestimmte Gene aktiviert werden und andere nicht, was von Zelltypus zu Zelltypus verschieden ist. Erst vor gut einem Jahrzehnt fand man heraus, wie solche Regulationsprozesse am Anfang der Individualentwicklung aussehen und die ersten Entwicklungsschritte steuern. Dabei spielen so genannte „Hox-Gene" eine entscheidende Rolle für die grundsätzliche Festlegung erster Differenzierungen. Am besten untersucht sind die allerersten Schritte ins Leben bei der Fruchtfliege Drosophila. Im Labor von Christiane Nüsslein-Volhard haben Entwicklungsbiologen herausgefunden, wie das Muttertier dazu eine regelrechte „genetische Brutpflege“ betreibt: Es sondert vier Substanzen ab, die in Eizellen strategisch wichtige Punkte besetzen. Zwei dieser Signalstoffe (Fachbegriff: Morphogene“) lagern sich jeweils in den gegenüberliegenden Polen des Eies ein, der dritte an beiden Polen und der vierte an der Bauchseite.
So werde ein eindeutiges dreidimensionales Koordinatensystem für die weitere Entwicklung festgelegt, erklärt Nüsslein-Volhard: „Vorn und hinten, oben und unten sind damit ein für allemal definiert. Vom beispielsweise ist immer dort, wo der Signalstoff bicoid deponiert ist." Nach der Befruchtung lösen diese Signalstoffe im Ei eine Nachrichtenkaskade aus. Die dabei ausströmenden Proteine spüren ganz bestimmte Gene an Hand einer charakteristischen Erkennungssequenz auf und erwecken sie aus dem zellulären Tiefschlaf. So werden zunächst ein paar wenige Gene angeknipst. Diese aktivieren nach dem gleichen Mechanismus weitere Gene und legen so eine erste Grobeinteilung des späteren Insekts fest. Die Kaskade erreicht ihren Höhepunkt, wenn die „homöotischen" oder Hox-Gene angeschaltet werden und die Kontrolle über die Entwicklung übernehmen. Gleich - griechisch homoios - werden sie deswegen genannt, weil sie in allen Organismen, in denen sie zu Hause sind, die Ausbildung vergleichbarer Körperteile entlang deren Längsachse steuern. Die Hox-Gene liegen auf dem Erbfaden im Block beieinander und enthalten eine typische kurze DNA-Sequenz, die so genannte Homöobox. In ein Protein übersetzt wirkt sie wie ein Generalschlüssel zum Öffnen weiterer noch verschlossener Steuergene aus der Hox-Klasse. Diese nachgeschalteten Hox-Gene rufen schließlich, Bereichsleitern einer Fabrik vergleichbar, in den nun bereits vordefinierten Segmenten des werdenden Insekts nach einer genauen zeitlichen Vorgabe jene untergeordneten „Arbeiter"-Gene zum Einsatz, die letztlich Flügel, Antennen, Beine oder Augen erstellen. Das Ergebnis war überraschend: Egal, wo die Forscher fahndeten, ob in Würmern, Krebsen oder Affen - überall fanden sie die gleichen Hox-Gene. Einzig deren Anzahl ist verschieden: Während eine simple Fliege mit einer Kette von 8 Hox-Genen auskommt, weisen die viel komplizierteren Wirbeltiere 4 Stränge mit insgesamt 38 Genen auf. In allen Tieren, in denen sie vorkommen, so stellte sich heraus, leisten Hox-Gene dasselbe: Sie steuern das allmähliche Embryowachstum vom Kopf zum Schwanz, indem sie das entstehende Wesen nach einem Baukastenprinzip zusammenfügen. Nur die untergeordneten Gene, die über die genaue Gestalt der Einzelteile bestimmen, unterscheiden sich von Tiergruppe zu Tiergruppe. Experimente des Genfer Mäusezüchters Duboule führten zu genaueren Erkenntnissen: Der Wissenschaftler hat einen Zwischenschritt der Evolution detailliert untersucht, der notwendig war, um Fischen die Eroberung des Landes zu ermöglichen: die Erfindung des Fußes. Wachstum von Fuß und Flosse, erklärt Duboule, werden von den gleichen Genen gesteuert - nur wird das Programm (des entsprechenden Gens Hoxd-13) bei der Flosse etwas früher abgeschaltet.