Wie weit prägen Erlebnisse aus der Familie unsere Erwachsenen-Beziehungen?
Mein Vater hat cholerische Züge und ich glaube das hat bei mir zu einigen "psychischen Narben" und Verhaltensweisen geführt. Als Kind habe ich sehr darunter gelitten, auch wenn ich jetzt Erwachsen bin und ein eigentlich gutes Verhältnis habe, habe ich manchmal das Gefühl auf "Eiern zu gehen". Meine Mutter bekommt dieses Verhalten am meisten ab, vertraut sich mir häufig an, auch das ist sehr verletzend.
Mein Vater rastet in ganz normalen Situationen manchmal unkontrolliert aus. Für Außenstehende ist das gar nicht verständlich, da kurz davor alles in Ordnung war, es für seinen Ausraster keine Anzeichen oder Vorwarnungen gab.
Als Beispiel: Er kann keinerlei Kritik vertragen und hört nie richtig zu. Manchmal stellt er mit die gleiche Frage mehrmals in einer Stunde. Wenn ich dann sage "hab ich vorhin doch schon erzählt, das war so und so" kann er komplett ausrasten. Genau so wenn man ihn bei Kleinigkeiten korrigiert, wie "Das Museum ist in Hamburg, nicht in Berlin."
Die Folge solcher Ausraster ist Geschrei, Anschuldigungen und wochenlanges Ignorieren und demonstratives Zeigen, dass er sauer ist.
Als Kind hat er bei schlechten Noten mit mir gelernt, was die schlimmste Strafe war. Da er mich, wenn ich etwas nicht verstanden habe, einfach nur angeschrien hat. Auch wenn man eine andere Meinung hat wie er, kann er explodieren.
Als ich noch Zuhause gelebt habe, war das sehr belastend. Man wusste ja nie wann die Bombe hoch geht und wenn er einmal ausgerastet ist, hat man das wochenlang zu spüren bekommen. Auch heute bei Familientreffen kann die Stimmung plötzlich kippen. An Ostern hat meine Mutter ihn darauf hingewiesen, dass er zwei Personen verwechselt hat. Als Folge war er wochenlang sauer und hat unseren Familienausflug für die Woche darauf abgesagt, obwohl meine Geschwister und ich nichts dafür konnten.
Ich merke, dass mich dieses Verhalten geprägt und Auswirkungen auf mein erwachsenes Ich hat
Ich habe einen tollen Partner, der keine Ähnlichkeit zu meinem Vater hat. Er ist aber emotional etwas verschlossen, will über Emotionen nicht reden, usw. Wenn er dann z.B. nach Hause kommt und schlecht gelaunt ist (vielleicht weil die Arbeit stressig war oder er schlecht geschlafen hat) beziehe ich das direkt auf mich und mach mir Sorgen, dass es meine Schuld ist.
Ich bezieh Verhalten schnell auf mich, frage dann oft was los ist und kann es nicht einfach "abhaken" und denken "wenn was ist, wird er es mir schon sagen", sondern habe immer das Gefühl für Harmonie sorgen zu müssen. Das kann auch nerven, das verstehe ich. Generell fühle ich mich häufig unsicher und suche extrem nach Harmonie und Geborgenheit.
Können die Erlebnisse aus meiner Kindheit der Grund dafür sein? Wie kann ich das besser trennen und verarbeiten?
7 Antworten
Können die Erlebnisse aus meiner Kindheit der Grund dafür sein?
DER Grund? Keine Ahnung. EIN Grund? Sehe ich als sehr wahrscheinlich an. Du überträgst gelernte Muster auf ihn.
Gründe können aber auch vielfältiger sein. Durch Vorbild zum Beispiel, falls deine Mutter ähnlich ist. Es kann auch schlicht Teil des Charakters sein und durch deine Kindheit "nur" verstärkt worden sein.
Wie kann ich das besser trennen und verarbeiten?
Hm ehrlich gesagt, da scheint jeder seinen eigenen Weg finden zu müssen, nach dem, was ich erlebt und beobachtet habe. Den wichtigsten Schritt hast du aber, nämlich den ersten: das Muster erkennen.
Für mich war der zweite wichtige Schritt, zu lernen und zu verstehen, dass Egoismus in der richtigen Dosierung eine gute, richtige, wichtige und wünschenswerte Eigenschaft ist. Sie sorgt dafür, dass man sich um sich selbst kümmert.
sondern habe immer das Gefühl für Harmonie sorgen zu müssen. (..) Generell fühle ich mich häufig unsicher und suche extrem nach Harmonie und Geborgenheit.
Kannst du entscheiden, dieses Gefühl von sich-kümmern-müssen bewusst anzunehmen, aber nicht darauf einzugehen? Lernen, auszuhalten, dass da irgendwas nicht in Ordnung ist, und dann ist es eben so und es ist okay so? Kann man in vielen Kontexten üben. Beruf, Beziehung, Familie, Freundschaften.
Ein weiteres Thema sind Grenzen. Wäre vermutlich bei einem Mann wie deinem Vater eher ein Thema für später, weil er gezielt mit disharmonie straft und dann sollte er dadurch keine Macht ausüben können. Aber es fällt halt sowas auf:
Als Folge war er wochenlang sauer und hat unseren Familienausflug für die Woche darauf abgesagt, obwohl meine Geschwister und ich nichts dafür konnten.
Trotzdem fahren, halt ohne ihn. Soll er zu Hause bleiben. Er ist die beleidigte leberwurst und die Wahrscheinlichkeit ist sowieso hoch, dass es ohne ihn ein schönerer Ausflug wird.
Das gilt übrigens auch gegenüber deiner Mutter:
Meine Mutter bekommt dieses Verhalten am meisten ab, vertraut sich mir häufig an, auch das ist sehr verletzend.
Du bist nicht ihre Therapeutin. Du bist ihre Tochter. Ist nicht deine Aufgabe, sie aufzufangen, wenn ihre Entscheidungen als erwachsener Mensch für sie Konsequenzen haben. SIE hat ihren Mann ausgesucht, SIE ist bei ihm geblieben, SIE hat dadurch dich gezwungen, in dieser Atmosphäre groß zu werden. Sie kann jederzeit gehen, wenn es ihr zuviel wird.
Du könntest auch mal in die Thematik inneres Kind schauen. Reines bauchgefühl, aber das könnte dich weiterbringen.
Du warst einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt und hast sehr darunter gelitten. Emotionale Stabilität gab es nicht. Dein Vater hatte mit seinen Ausbrüchen die Familie fest im Griff.
Kinder befürchten oft, sie seien schuld am Verhalten der Eltern, ziehen sich zurück, werden sehr "brav" , leben in Angst, es könne wieder losgehen. Sicher wirkt sich das auch auf Verhältnisse im späteren Leben aus.
Der Partner, mag er auch ganz anders sein, wird vorsichtig betrachtet, die Meinung eher zurückhaltend geäußert, der Anpassungsprozess wird möglichst schnell vollzogen. Du bist unsicher, ängstlich, du traust dem Frieden nicht.
Rede mit deinem Partner. Er muss wissen, warum du so fühlst und handelst.
Auch ist es nicht zu spät, deinem Vater eine klare Ansage zu machen. Du bist nicht mehr das abhängige Kind, das den Mund hält. Wenn er wieder wegen Kleinigkeiten ausrastet, sage ihm deutlich, kurz!, dass du das nicht tolerierst und weitere Unternehmungen erst mal nicht mitmachen wirst.
Beziehe dich klar auf sein Verhalten, er muss spüren, dass er selbst schuld an geplatzten Ausflügen oder angebrochenen Familienfesten ist. Wenn ihm das von mehreren Personen gesagt wird, denkt er vielleicht mal drüber nach.
Ich hatte mit meinem Partner die vergangenen Wochen einige Konflikte, deswegen ist die Stimmung nicht so gut. Für mich ist das gerade extrem belastend, aber ich will auch nicht immer wieder mit ernsten Gesprächen anfangen, ich habe Angst so kommen wir da nie raus...
Mit meinem Vater zu sprechen macht keinen Sinn. Er ist überhaupt nicht selbst reflektiert. Wenn ich das mache, wird er es meine Mutter spüren lassen und sie wird diejenige sein, die leidet. Er macht das schon recht "clever" seit er gegen mich keinen wirklichen Hebel hat, lässt er seine Wut vorzugsweise an meiner Mutter aus. Und sie will ich unbedingt schützen.
Wie weit prägen Erlebnisse aus der Familie unsere Erwachsenen-Beziehungen?
Ganz extrem, so gut wie nichts prägt uns mehr.
Können die Erlebnisse aus meiner Kindheit der Grund dafür sein?
Ja.
Wie kann ich das besser trennen ...
Was genau willst Du "trennen"?
... und verarbeiten?
Zum Beispiel eine Familienaufstellung machen. Oder eine Therapie, sonfern dafür ein nachvollziehbarer Grund vorliegt.
Noch ein Tipp: Wenn Du versuchst, Dich gegen Deinen Vater innerlich zu wehren, abzugrenzen und anders zu werden als er, dann erreichst Du damit voraussichtlich das genaue Gegenteil, nämlich dass Du genauso wirst wie er (auf die eine oder andere Weise).
Diese Familenverstrickungen sind zum Beispiel im Buch "Wo die Liebe hinfällt" von Wilfried Nelles beschrieben. In Deiner Situation für's Verständnis extrem hilfreich.
Wenn ich mich innerlich nicht abgrenzen sollte, was kann ich dann tun?
Kurz: Annehmen, wie er ist und dann Deinen eigenen Weg gehen.
Ich merke auch grad, dass "Abgrenzen" nicht den Kern der Sache trifft.
Als Beispiel geb ich Dir mal den Satz einer Coaching-Klientin mit: "Ich wollte nie so werden wie meine Mutter, sondern meine Tochter besser behandeln als sie mich. Ich habe völlig versagt und die letzten 30 Jahre genauso gehandelt, wie meine Mutter."
Warum? Weil sie nicht von ihrer Mutter losgelassen hat.
Und Loslassen geht am besten über Akzeptanz (was keine nachträgliche Legitimation seines Verhaltens ist).
Das ist ziemlich komplex (bzw. man muss sehr fein differenzieren), gegen unsere normale Reaktion und scheinbar auch gegen den gesunden Menschenverstand.
Ja, unsere Kindheit prägt uns. Tut mir leid, dass du mit so einem Vater aufwachsen musstest und dass deine Mutter nicht den Mut hatte, ihn zu verlassen.
Sprich offen mit deinem Partner darüber warum dich sein Verhalten verunsichert, vielleicht kann er dir etwas entgegen kommen um dir deine Ängste zu nehmen.
Ich hatte mit meinem Partner die vergangenen Wochen einige Konflikte, deswegen ist die Stimmung nicht so gut. Für mich ist das gerade extrem belastend, aber ich will auch nicht immer wieder mit ernsten Gesprächen anfangen, ich habe Angst so kommen wir da nie raus...
Die Eltern prägen unsere Glaubenssätze sehr stark.
Ich empfehle Dir die Bücher von Stefanie Stahl.
Sie arbeitet mit dem Inneren Kind und lässt Dein Erwachsenes Ich sich von dem Inneren Kind trennen und eigene Glaubenssätze schaffen.
Sind die Bücher empfehlenswert? In dem Bereich gibt es so viel und ich konnte mich bislang nicht entscheiden.
Ja, sehr.
Auch ihren Podcast "Stahl aber herzlich" kann ich wärmsten empfehlen.
Da macht sie Life Sessions mit echten Klienten und Du lernst dort sehr viel über falsche Glaubenssätze usw.
Trennen möchte ich die Erfahrungen aus meiner Kindheit zu den Erlebnissen in der Gegenwart.
Wenn ich mich innerlich nicht abgrenzen sollte, was kann ich dann tun?