Wie interpretiert man diesen Text?
Wie interpretiert man diesen Text hinsichtlich der Entwicklung der Hauptfigur (Paul Bäumer) in "Im Westen nichts Neues"?
(Ich Perspektive von Paul Bäumer:) 'Diese Stunden. - Das Röcheln setzt wieder ein - wie langsam stirbt doch ein Mensch! Denn das weiß ich: Er ist nicht zu retten. Ich hahe zwar versucht, es mir auszureden, aber mittags ist dieser Vorwand vor seinem Stöhnen zerschmolzen, zerschossen.
Wenn ich nur meinen Revolver nicht beim Kriechen verloren hätte, ich würde ihn erschießen. Erstechen kann ich ihn nicht. Mittags dämmere ich an der Grenze des Denkens dahin. Hunger zerwühlt mich, ich muss fast weinen darüber, essen zu wollen, aber ich kann nicht dagegen ankämpfen. Mehrere Male hole ich dem Sterbenden Wasser und trinke auch selbst davon. Es ist der erste Mensch, den ich mit meinen Händen getötet habe, den ich genau sehen kann, dessen Sterben mein Werk ist.
Kat und Kropp und Müller haben auch schon gesehen, wenn sie jemand getroffen haben, vielen geht es so, im Nahkampf ja oft- Aber jeder Atemzug legt mein Herz bloß. Dieser Sterbende hat die Stunden für sich, er hat ein unsichtbares Messer, mit dem er mich ersticht: die Zeit und meine Gedanken. lch würde viel darum geben, wenn er am Leben bliebe. Es ist schwer, dazuliegen und ihn sehen und hören zu mussen. Nachmittags um drei Uhr ist er tot.'
1 Antwort
Ich finde, Wikipedia fasst die Entwicklung von Paul Bäumer sehr gut zusammen:
In der Ruhestellung hinter der Front erinnert er sich an seine Schulzeit. Die patriotischen Reden seines Lehrers Kantorek hatten die ganze Klasse dazu gebracht, sich freiwillig zum Kriegsdienst zu melden. [...] Paul lernt zu überleben, die verschiedenen Geschosse schon am Klang zu unterscheiden, auch unter widrigsten Bedingungen noch etwas zu essen zu finden und sich gegen den wahren Feind, den Tod, zu wappnen.
Bei einem kurzen Heimataufenthalt stellt Bäumer fest, wie sehr ihn die Erlebnisse an der Front inzwischen verändert haben. Es ist ihm unmöglich, seiner Familie und anderen Zivilisten die grausamen Erfahrungen aus dem Schützengraben mitzuteilen. Enttäuscht kehrt er zu denjenigen Menschen zurück, die ihm nun die nächsten geworden sind, zu seinen Kameraden an der Front. Bei einem Angriff wird er verwundet und verbringt einige Wochen im Lazarett, bevor er an die Front zurückkehrt. In den nächsten Monaten wird Bäumers Gruppe nach und nach zerrieben. Einer nach dem anderen stirbt bei den Gas- und Granatenangriffen, im Trommelfeuer oder im Kampf Mann gegen Mann. Schließlich wird auch Bäumer kurz vor Ende des Krieges tödlich getroffen, „an einem Tag, der so ruhig und so still war, daß der Heeresbericht sich auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.“
Die Realität von Krieg und Front widersprechen offenbar der patriotischen Indoktrination:
Im Rückblick erkennt er, dass die von dem Erzieher vermittelte Weltanschauung nicht mit der an der Front erlebten Realität zu vereinen ist.
Insofern kann dein Text als Schlüsselerlebnis gelten: er hat zum ersten Mal einen Menschen tödlich verwundet und muss ihm nun stundenlang beim Sterben zuschauen und zuhören. Das und die ganze existentielle Situation im Schützengraben hat so gar nichts mit den heldenhaften Fantasien von Krieg aus der Schulzeit zu tun. Der Sterbeprozess macht ihn verrückt; da er aber keinen Revolver hat und Erstechen ihm wohl zu brutal ist, kann er das Leid, das ihm nahegeht, obwohl es doch der böse Feind ist - "lch würde viel darum geben, wenn er am Leben bliebe." - nicht verkürzen.
Literarisch eigentümlich ist, dass der Text aus einer Mischung aus zynischen und poetischen Formulierungen besteht.
Zynisch etwa:
- "wie langsam stirbt doch ein Mensch!"
- "Nachmittags um drei Uhr ist er tot."
Poetisch u.a.:
- "Hunger zerwühlt mich"
- "er hat ein unsichtbares Messer, mit dem er mich ersticht: die Zeit und meine Gedanken"
- "mittags ist dieser Vorwand vor seinem Stöhnen zerschmolzen, zerschossen."
Das Zynische könnte von seinem alten Ich, das Poetische von seinem neuen Ich stammen.
Es geht ja um die Entwicklung der Hauptfigur Paul Bäumer. Damit ist gemeint, dass seine Persönlichkeit, sein Charakter, oder eben sein Ego oder Ich, sich wandelt, verändert, entwickelt.
Sein altes Ich ist seine Persönlichkeit vor dem Krieg, während der Schulzeit, also wie er damals als Mensch war, gedacht, gefühlt hat.
Sein neues Ich ist seine Persönlichkeit während oder nach dem Krieg, die sich durch seine Kriegserlebnisse geändert hat.
Filme und Romane sind oft sogenannte Heldenreisen, in denen sich eine Figur charakterlich entwickelt.
In der Literatur spricht man vom Entwicklungsroman:
"Ein Entwicklungsroman ist ein Roman, in dem die geistig-seelische Entwicklung einer Hauptfigur in ihrer Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der Umwelt dargestellt wird. Zentral ist dabei ein „fiktiv-biografisches Erzählen“, das je nach Subgenre entweder die harmonische Auflösung von (Identitäts-)Konflikten, die Desillusionierung des naiven Protagonisten oder die Illustration pädagogischer Konzepte zum Ziel haben kann."
Das passt doch auch super zu "Im Westen nichts Neues".
aber müsste dann nicht die poetische Formulierung von seinem alten ich sein, und die zynische Formulierung von seinem neuen Ich? weil er mochte ja auch während seiner Schulzeit Gedichte etc bereits.
Stimmt, das ist ein sehr guter Punkt!
Du könntest beide Varianten als mögliche Interpretationen aufführen, und dann begründen, welche du plausibler findest.
Wenn ich weiter drüber nachdenke, widerspricht ja die Tatsache, dass er am Ende desillusioniert stirbt, der Kategorisierung Entwicklungsroman und Heldenreise.
Insofern könnte man argumentieren, dass sich die Figur positiv entwickelt, was die Desillusionierung bezüglich des Krieges betrifft, dass sie sich insgesamt aber eher negativ entwickelt, also verbittert und zynisch wird und stirbt - was eigentlich keine wirkliche Entwicklung ist, zumindest nicht im klassischen Sinne.
Danke vielmals, jetzt habe ich ein viel besseres Verständnis davon!
wie meinen Sie "altes Ich" bzw "neues Ich"?