Wie interpretiert man diesen Text?

1 Antwort

Vom Beitragsersteller als hilfreich ausgezeichnet

Ich finde, Wikipedia fasst die Entwicklung von Paul Bäumer sehr gut zusammen:

In der Ruhestellung hinter der Front erinnert er sich an seine Schulzeit. Die patriotischen Reden seines Lehrers Kantorek hatten die ganze Klasse dazu gebracht, sich freiwillig zum Kriegsdienst zu melden. [...] Paul lernt zu überleben, die verschiedenen Geschosse schon am Klang zu unterscheiden, auch unter widrigsten Bedingungen noch etwas zu essen zu finden und sich gegen den wahren Feind, den Tod, zu wappnen.
Bei einem kurzen Heimataufenthalt stellt Bäumer fest, wie sehr ihn die Erlebnisse an der Front inzwischen verändert haben. Es ist ihm unmöglich, seiner Familie und anderen Zivilisten die grausamen Erfahrungen aus dem Schützengraben mitzuteilen. Enttäuscht kehrt er zu denjenigen Menschen zurück, die ihm nun die nächsten geworden sind, zu seinen Kameraden an der Front. Bei einem Angriff wird er verwundet und verbringt einige Wochen im Lazarett, bevor er an die Front zurückkehrt. In den nächsten Monaten wird Bäumers Gruppe nach und nach zerrieben. Einer nach dem anderen stirbt bei den Gas- und Granatenangriffen, im Trommelfeuer oder im Kampf Mann gegen Mann. Schließlich wird auch Bäumer kurz vor Ende des Krieges tödlich getroffen, „an einem Tag, der so ruhig und so still war, daß der Heeresbericht sich auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.“

Die Realität von Krieg und Front widersprechen offenbar der patriotischen Indoktrination:

Im Rückblick erkennt er, dass die von dem Erzieher vermittelte Weltanschauung nicht mit der an der Front erlebten Realität zu vereinen ist.

Insofern kann dein Text als Schlüsselerlebnis gelten: er hat zum ersten Mal einen Menschen tödlich verwundet und muss ihm nun stundenlang beim Sterben zuschauen und zuhören. Das und die ganze existentielle Situation im Schützengraben hat so gar nichts mit den heldenhaften Fantasien von Krieg aus der Schulzeit zu tun. Der Sterbeprozess macht ihn verrückt; da er aber keinen Revolver hat und Erstechen ihm wohl zu brutal ist, kann er das Leid, das ihm nahegeht, obwohl es doch der böse Feind ist - "lch würde viel darum geben, wenn er am Leben bliebe." - nicht verkürzen.

Literarisch eigentümlich ist, dass der Text aus einer Mischung aus zynischen und poetischen Formulierungen besteht.

Zynisch etwa:

  • "wie langsam stirbt doch ein Mensch!"
  • "Nachmittags um drei Uhr ist er tot."

Poetisch u.a.:

  • "Hunger zerwühlt mich"
  • "er hat ein unsichtbares Messer, mit dem er mich ersticht: die Zeit und meine Gedanken"
  • "mittags ist dieser Vorwand vor seinem Stöhnen zerschmolzen, zerschossen."

Das Zynische könnte von seinem alten Ich, das Poetische von seinem neuen Ich stammen.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – B.Sc., M.A., M.Sc. & Doktorand

NotQuiteSure 
Beitragsersteller
 20.12.2022, 09:29

wie meinen Sie "altes Ich" bzw "neues Ich"?

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petermaier11  20.12.2022, 09:39
@NotQuiteSure

Es geht ja um die Entwicklung der Hauptfigur Paul Bäumer. Damit ist gemeint, dass seine Persönlichkeit, sein Charakter, oder eben sein Ego oder Ich, sich wandelt, verändert, entwickelt.
Sein altes Ich ist seine Persönlichkeit vor dem Krieg, während der Schulzeit, also wie er damals als Mensch war, gedacht, gefühlt hat.
Sein neues Ich ist seine Persönlichkeit während oder nach dem Krieg, die sich durch seine Kriegserlebnisse geändert hat.

Filme und Romane sind oft sogenannte Heldenreisen, in denen sich eine Figur charakterlich entwickelt.
In der Literatur spricht man vom Entwicklungsroman:
"Ein Entwicklungsroman ist ein Roman, in dem die geistig-seelische Entwicklung einer Hauptfigur in ihrer Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der Umwelt dargestellt wird. Zentral ist dabei ein „fiktiv-biografisches Erzählen“, das je nach Subgenre entweder die harmonische Auflösung von (Identitäts-)Konflikten, die Desillusionierung des naiven Protagonisten oder die Illustration pädagogischer Konzepte zum Ziel haben kann."

Das passt doch auch super zu "Im Westen nichts Neues".

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NotQuiteSure 
Beitragsersteller
 20.12.2022, 09:44
@petermaier11

aber müsste dann nicht die poetische Formulierung von seinem alten ich sein, und die zynische Formulierung von seinem neuen Ich? weil er mochte ja auch während seiner Schulzeit Gedichte etc bereits.

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petermaier11  20.12.2022, 09:54
@NotQuiteSure

Stimmt, das ist ein sehr guter Punkt!
Du könntest beide Varianten als mögliche Interpretationen aufführen, und dann begründen, welche du plausibler findest.

Wenn ich weiter drüber nachdenke, widerspricht ja die Tatsache, dass er am Ende desillusioniert stirbt, der Kategorisierung Entwicklungsroman und Heldenreise.

Insofern könnte man argumentieren, dass sich die Figur positiv entwickelt, was die Desillusionierung bezüglich des Krieges betrifft, dass sie sich insgesamt aber eher negativ entwickelt, also verbittert und zynisch wird und stirbt - was eigentlich keine wirkliche Entwicklung ist, zumindest nicht im klassischen Sinne.

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NotQuiteSure 
Beitragsersteller
 20.12.2022, 15:48
@petermaier11

Danke vielmals, jetzt habe ich ein viel besseres Verständnis davon!

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