Wer war Astraea?

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Astraia (griechisch: Ἀστϱαῖα bzw. in ionischem Dialekt Ἀστϱαίη [Astraie]; römische Entsprechung: Astraea) ist eine Göttin.

Sie kann in der Vorstellung Sternenjungfrau sein. Dies zeigt sich auch im Namen: griechisch ἁστήρ (aster) = Stern, Gestirn; ἄστρον (astron) = Sternbild, Gestirn, Stern

Astraia ist mit der Göttin Dike (Δίκη; römische Entsprechung: Iustitia), Personifikation von Recht und Gerechtigkeit, gleichgesetzt worden. Hesiod, Theogonia (Θεογονία; Theogonie; lateinischer Titel: Theogonia) 256 wird die Jungfrau Dike erwähnt.

Abstammung: Dike gilt gewöhnlich als Tochter der Göttin Themis (Θέμις) und des Gottes Zeus (Ζεύς; römische Entsprechung: Iuppiter). Hesiod, Theogonia (Θεογονία; Theogonie; lateinischer Titel: Theogonia) 901 - 906 ist aus dieser Verbindung Themis Mutter der Horen (Ὧραι [Horai; lateinisch: Horae) Eunomie (Εὐνομίη; attisch und dorisch: Εὐνομία [Eunomia], Personifikation der guten Ordnung), Dike und Eirene (Εἰρήνη; Personifikation des Friedens) und der Moiren (Μοῖρα; römische Entsprechung: Parcae [Parzen]) Klotho (Κλωθώ), Lachesis (Λάχεσις) und Atropos ( Ἄτροπος). Bei Aratos, Phainomena 98 – 100 wird offengelassen, ob Astraios oder ein anderer Vater der Jungfrau (Παρθένος [Parthenos]) ist. Hyginus, De astronomia 2, 25, der anscheinend eine andere Aratos-Textausgabe hatte, schreibt Aratos die Meinung zu, Eltern der Jungfrau (Virgo) seien Astraeus und Aurora.

Astraios (Ἀστραῖος); Sohn der Titanin Eurybie/Eurybia und des Titanen Kreios/Krios, ist bei Hesiod, Theogonia (Θεογονία; Theogonie; lateinischer Titel: Theogonia) 378 – 382 zusammen mit Eos (Ἠώς; römische Entsprechung: Aurora), Göttin der Morgenröte, Vater der Winde, des Morgensterns und der anderen leuchtenden Sterne/Gestirne am Himmel (vgl. auch Apollodoros, Bibliotheke 1, 2, 4/1, 9). Hyginus, Fabulae Praefatio 4 zählt dagegen Astraeus zu den Giganten, Kinder der Göttin Terra (Personifikation der Erde; römische Entsprechung zur griechischen Göttin Gaia [Γαῖα]/Ge [Γῆ] und des Gottes Tartarus (römische Entsprechung zum griechischen Gott Tartaros [Τάρταρος]).

Astraia ist nicht nur mit Dike gleichgesetzt worden, sondern von einigen auch mit anderen Frauen (zumeist Göttinnen) der Religion und Mythologie: Demeter (Δημήτηρ; römische Entsprechung: Ceres), Erigone (Ἠριγόνη), Isis (Ἶσις), Atargatis (Ἀταργάτις), Tyche (Τύχη; römische Entsprechung: Fortuna); vgl. beispielweise Eratosthenes; Katasterismoi (Καταστερισμόι; Sternsagen; lateinischer Titel: Catasterismi) 9 und Hyginus, De astronomia 2, 25.

Astraia tritt verhältnismäßig spät in der griechischen Mythologie in Erscheinung.

Der früheste Beleg ist in der Zeit des Hellenismus, bei Aratos aus Soloi (einer griechisch besiedelten Stadt in Kilikien, einer Landschaft im antiken Kleinasien) in einem Gedicht über Himmelserscheinungen (3. Jahrhundert v. Chr.). Die Göttin wird darin Jungfrau (griechisch: Παρθένος [Parthenos]; römische Entsprechung: Virgo) genannt und mit Dike gleichgesetzt. Aratos geht auf die Sternbilder der sogenannten Tierkreiszeichen (Tierkreis/Zodiakos; griechisch: ζῳδιακὸς κύκλος [zoidiakos kyklos]; lateinisch: zodiacus oder signifer; wörtlich: „Kreis von Lebewesen“) ein. Ob er sich die Sternensage ausgedacht hat oder eine schon vorliegende Erzählung ausgeschmückt hat, kann nicht sicher ermittelt werden, weil viele Texte aus hellenistischer Zeit nicht erhalten sind.

Aratos hat Astraia mit dem Mythos von den Weltzeitaltern verbunden, indem er sie in einer ähnlichen Rolle darstellte, wie sie bei Hesiod, Erga kai hemerai (Ἔργα καὶ ἡμέραι; Werke und Tage; lateinischer Titel: Opera et dies) 90 – 92 und 106 – 201 die Göttinnen Aidos (Αἰδὼς) und Nemesis (Νέμεσις) haben, Personifikationen von Schamgefühl/Scheu/Sittsamkeit/Ehrfurcht/Respekt und Vergeltung/Rache/Ehrgefühl/Empörung/Entrüstung. Aidos und Nemesis werden im fünften und letzten Weltzeitalter, dem des eisernen Geschlechts, die Erde, auf der sich die Menschen sehr schlecht verhalten, verlassen und sich zum Olymp begeben.

Bei der Vorstellung der Wiederkehr eines goldenen Zeitalters kommt eine Erwartung vor, die Jungfrau Astraia (Astraea), die in der Gleichsetzung mit Dike (Iustitia) Recht und Gerechtigkeit verkörpert, werde auf die Erde zu den Menschen zurückkehren.

Astraia (Ἀστϱαῖα; römisch: Astraea), Tochter der Göttin Themis und des Gottes Zeus oder der Göttin Eos und des Gottes Astraios; Astraia wurde mit Dike gleichgesetzt.

Aratos, Phainomena (Φαινόμενα; Himmelserscheinungen; lateinischer Titel: Phaenomena) 96 – 148 beschreibt das Sternbild Jungfau (Παρθένος [Parthenos]), am Himmel unter den Füßen des Bärenhüters (Ἀρκτοῦρος Arktouros]) zu betrachten, den die Menschen Stiertreiber/Ochsentreiber (Βοώτης Bootes]) nennen, und erzählt eine Sage.

Aratos, Phainomena = Sternbilder und Wetterzeichen : griechisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Manfred Erren. Düsseldorf : Artemis & Winkler, 2009 (Sammlung Tusculum), S. 11/13/15:  

„Unter beiden Füßen des Bootes betrachte die J u n g f r a u , die in der Hand die glänzende Ähre trägt. Ob die nun ein Kind des Astraios ist, der nach den Alten der Vater der Gestirne gewesen sein soll, oder eines anderen, möge sie ungestört ihre Bahn ziehen! Bei den Menschen läuft eine andere Sage um, daß sie – versteht sich! früher auf der Erde weilte, und sie herrschte über die Menschen von Angesicht zu Angesicht; niemals verschmähte sie die Gesellschaft der Männer noch der Frauen zur Urzeit, sondern mitten unter ihnen hatte sie sich niedergelassen, obgleich sie eine Unsterbliche war. Und man nannte sie Dike (Recht); sie versammelte die Alten, irgendwo auf dem Markt oder auf einer geräumigen Straße, und sang, die Menschen anspornend, volksfreundliche Rechtssprüche. Noch verstanden sie sich damals nicht auf unseligen Hader, nicht auf scheltende Auseinandersetzung und Waffenlärm, sie lebten so hin; fern lag ihnen das gefährliche Meer, und noch führten nicht Schiffe den Lebensunterhalt von ferne herbei, sondern Rinder und Pflüge, und sie selbst, die Herrin des Volks, gewährte ihnen alles tausendfältig, Dike, die Rechtschenkende. Das war damals, als die Erde noch das Goldene Geschlecht nährte. Mit den Silbernen verkehrte sie wenig und nicht mehr ganz bereitwillig, sie sehnte sich nach den Sitten des alten Volkes zurück; dennoch kam es noch vor beim Silbernen Geschlecht; sie kam aber abendlich von den echohallenden Bergen herab, alleine, und gesellte sich zu niemandem mit freundlichen Worten, sondern wenn sie große Hügel mit Menschen angefüllt hatte, sprach sie Drohreden, schalt sie wegen ihrer Schlechtigkeit und sagte, sie werde nicht mehr sichtbar zu ihnen kommen auf ihr Rufen hin. »Wieviel minder ist das Geschlecht, das die goldenen Väter hinterlassen haben! Und ihr werdet noch schlechtere Kinder gebären. Und also werden wohl Kriege, und also auch feindseliges Blutvergießen sein unter den Menschen, und über dem Übel wird der Schmerz lasten.« So sprach sie und strebte zu den Bergen; das ganze Volk aber spähte noch immer nach ihr, als sie es verließ. Aber als dann auch diese tot waren, entstanden die andern, das Eherne Geschlecht, heillosere Menschen als die vorigen; die schmiedeten als erste das übeltäterische, wegelagernde Schwert, genossen als erste das Fleisch von Pflugstieren. Da flog Dike, voll Haß über das Geschlecht dieser Menschen, zum Himmel und nahm Wohnung an dem Ort, wo sie nächtlich noch den Menschen erscheint, die Jungfrau, dicht beim vielbetrachteten Bootes.

Über ihren beiden Schultern aber kreist ein Stern von solcher Größe und in solchen Glanz gebettet wie der, der unter dem Schwanz der Großen Bärin erscheint: die ist ja stark, und starke Sterne sind in ihrer Nähe; wenn du die einmal gesehen hast, brauchst du sie nicht mehr herauszusondern, solch ein Stern zieht vor ihren Füßen schön und groß; einer vor denen unter der Schulter, einer vor denen, die sich von der Hüfte herabstrecken, ein anderer unter den hinteren Knien; doch ziehen sie einzeln, jeder an seiner Stelle, i n U n b e n a n n t h e i t dahin. Unter ihrem Haupt sind die Z w i l l i n g e , mitten unter ihr der K r e b s ; unter ihren Hinterfüßen leuchtet der L ö w e schön.“

Bei Vergil, Ekloge 4, 4 - 7 ist ein neu enststehendes Weltzeitalter mit der Rückkehr der Jungfau verbunden.

ultima Cumaei venit iam carminis aetas;

magnus ab integro saeclorum nascitur ordo.

iam redit et Virgo, redeunt Saturnia regna,

iam nova progenies caelo demittitur alto.

Publius Vergilius Maro, Hirtengedichte = Bucolica. Über den Landbau = Georgica : Lateinisch-Deutsch: Herausgegeben und übersetzt von Niklas Holzberg. Berlin ; Boston : De Gruyter, 2016 (Sammlung Tusculum), S. 66:  

„Schon ist die letzte Zeit des kumäischen Liedes gekommen, neu wird die große Reihe der Weltzeitalter geboren. Schon kehrt wieder die Jungfrau und wieder das Reich des Saturnus, schon wird neuer Nachwuchs gesandt von der Höhe des Himmels.“

Vergil,. Georgica 2, 473/474 heißt es, Iustitia habe, von der Erde verschwindend, im Lebensbereich der Bauern letzte Spuren hinterlassen:

extrema per illos  

Iustitia excedens terris vestigia fecit.

Ovid, Metamorphosen 1, 149 – 150 gibt eine Darstellung, wie die Jungfrau Astraea im Zeitalter des ehernen Geschlechts die Erde verläßt:

victa iacet pietas, et virgo caede madentis

ultima caelestum terras Astraea reliquit.

Publius Ovidius Naso, Metamorphosen. Herausgegeben und übersetzt von Gerhard Fink. Düsseldorf ; Zürich : Artemis & Winkler, 2004 (Sammlung Tusculum), S. 19:  

„Überwältigt liegt die Nächstenliebe am Boden, und als letzte der Himmlischen verläßt die Göttin der Gerechtigkeit, die Jungfrau Astraia, die von Mord bluttriefende Erde.“

Publius Ovidius Naso, Metamorphosen : lateinisch-deutsch. In deutsche Hexameter übertragen und herausgegeben von Erich Rösch. Mit einer Einführung von Niklas Holzberg. 13. Auflage. München ; Zürich : Artemis & Winkler, 1992 (Sammlung Tusculum), S. 13/15:  

„Dar-

nieder liegt die heilige Scheu, und, der Himmlischen letzte,

Jungfrau Astraea verläßt die mordbluttriefende Erde.“

Ovid, Fasti 1, 249 - 252 nennt die durch menschliche Schandtat in die Flucht getriebene Göttin Iustitia:

nondum Iustitiam facinus mortale fugarat  

  (ultima de superis illa reliquit humum),  

proque metu populum sine vi pudor ipse regebat;

  nullus erat iustis reddere iura labor.

Publius Ovidius Naso, Fasti : Lateinisch-Deutsch = Festkalender. Auf der Grundlage der Ausgabe von Wolfgang Gerlach neu übersetzt und herausgegeben von Niklas Holzberg. 4., überarbeitete Auflage. Berlin : Akademie-Verlag, 2012 (Sammlungh Tusculum), S. 21  

„Noch war Justitia nicht durch der Menschen Verbrechen vertrieben –

  Von allen Göttern zuletzt sie ja die Erde verließ -,

Ehrfurcht statt Furcht regierte das Volk, das Gewalt auch nicht kannte;

  Unter Gerechten Recht sprechen - es war noch normal.“

Eine Verbindung zu Stürmen zieht Gaius Valerius Flacchus, Argonautica 2, 361 – 364:

saevior haud alio mortales tempore gentes

terror agit. tunc urget enim, tunc flagitat iras

in populos Astraea Iovem terrisque relictis

invocat adsiduo Saturnia sidera questu.

C. Valerius Flaccus, Argonautica : lateinisch/deutsch = Die Sendung der Argonauten. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Paul Dräger. Frankfurt am Main ; Berlin ; Bern ; Bruxelles ; New York ; Oxford ; Wien : Lang, 2003 (Studien zur klassischen Philologie ; Band 140) S. 75:  

„Grausamer jagt zu keiner Zeit der Schrecken der Stürme die Stämme der Sterblichen.

Dann bedrängt nämlich, dann fordert Astraea von Iuppiter Zorn

gegen die Völker und ruft nach Verlassen der Erde

‹gegen sie› in beständiger Klage das saturnische Gestirn an.“

Statius, Silvae 1, 4, 1 – 4 verkündete hoffnungsfroh, wie die nähernde/segenspendende die Frommen/Pflichtbewußten ansieht/betrachtetAstraea und, mit Jupiter versöhnt, zurückkehrt:

estis, io, superi, nec inexorabile Clotho  

volvit opus, videt alma pios Astraea Iovique  

conciliata redit, dubitataque sidera cernit  

Gallicus.

Juvenal, Satire 6, 1 – 20 schildert ein Verweilen von Pudicitia (Schamgefühl/Sittsamkeit/Keuschheit; ungefähre römische Ensprechung zur griechsichen Göttin Aidos) auf der Erde in der goldenen Zeit, als der Gott Saturn (Saturnus) König war und deutet sie als Schwester von Astraea, mit der zusammen sie von der Erde weicht (6, 19 – 20):

paulatim deinde ad superos Astraea recessit  

hac comite, atque duae pariter fugere sorores.

Juvenal, Satiren : lateinisch-deutsch. Herausgegeben, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Joachim Adamietz. München ; Zürich : Artemis & Winkler, 1993 (Sammlung Tusculum), S. 89:  

„Allmählich zog sich darauf mit ihr als Begleiterin Astraea

zu den Göttern zurück, und beide Schwestern flohen zusammen.“

Hyginus, De astronomia 2, 25 behandelt das Sternbild Jungfrau (Virgo). Hesiod habe sie Tochter des Jupiter und der Themis genannt. Aratus habe dagegen gemeint, sie sei Tochter des Astraeus und der Aurora, die zu derselben Zeit gelebt habe wie das goldene Zeitalter der Menschen, und sie als ihre Anführerin dargestellt. Wegen ihrer Sorgfalt und Gerechtigkeit/Billigkeit sei sie Iustitia genannt worden. Sie habe schließlich das Verhalten der weniger dienstwilligen und mehr gierigen Menschen nicht mehr ertragen können und sienzu den Sternen geflohen. Sie sei von manchen Fortuna, Ceres oder Erigone genannt worden oder eine Tochter Apollos von Chrysothemis, als Kind Parthenos genannt, und weil sie jung gestorben ist, von Apollo unter die Gestirne versetzt worden.

Nonnos, Dionysiaka (Διονυσιακά; Geschichten von Dionysos; lateinischer Titel: Dionysiaca) 41, 212 – 229 gibt eine Darstellung, wie die kleine Beroe (Βερόη), Tochter Aphrodites, Astraie, der Pflegerin des goldenen Geschlechts, überreicht wird, sie diese in die Arme nimmt, als Amme nährt und sie schmückt, indem sie die zu einem goldenen Kranz gebogene Sternenähre wie eine Kette um den Hals des Mädchens legt. 41, 333 – 335 erwähnt Aphrodite in einer Rede an ihre Tochter Harmonia unter anderem Astraie, die Amme der Männer staatlicher Rechtsordnung, habe sie geschickt. Astraie wird Sternenjungfrau/gestirnte Jungfrau (παρθένος ἁστερόεσσα) genannt.

Internetseiten mit einführender Information:

https://de.wikipedia.org/wiki/Astraea_(Mythologie)

http://www.theoi.com/Titan/Astraia.html