Wer erteilte die Befehle im Mittelalter? Welche Befehle erteilte welcher Stand?Und welche Wirkung hatte es auf die Menschen?

1 Antwort

Das Verhältnis der Stände untereinander ist im Mittelalter vollkommen anders, als du es dir vorstellst und das mit den Befehlen ist so eine Sache - viel komplizierter als du ahnst!

Hallo, Charlotte!

Schön, dass du dich für das Mittelalter interessierst und eine Frage stellst wie Macht und Entscheidungsgewalten funktionierten. Das Mittelalter ist in vielen viel moderner als wir ahnen aber auf der anderen Seite weiter entfernt als man glaubt.

Für uns heute sind Befehle eine klare Sache und zumeist mit einer Person in Funktion verbunden. Ein General darf seinen Untergebenen Befehle erteilen, die gewählte Regierung via Gesetz den Behörden usw.

Doch so einfach war das im Mittelalter nicht.

Die Menschen im Mittelalter waren immer in einem komplizierten Beziehungsgeflecht zueinander, bestehend aus gegenseitigen Verpflichtungen und Freiheiten. Grundlage der politischen Macht ist der Feudalismus, bzw. das Lehnswesen. Durch die gigantischen Landgewinne nach dem "Fall" des Römischen Reiches standen die fränkischen Eroberer vor dem Problem, wie man so ein Riesenreich nicht nur erobern, sondern auch regieren solle. Die römische Verwaltung, Bürokratie und Strukturen waren ja nicht mehr vorhanden und ein Heer von geschulten Beamten (auch Sklaven) war nicht verfügbar. Also teilte der Eroberer das Reich in viele kleinere Einheiten und gab sie seinen Vasallen als Leihgabe (Lehen). Diese hatten auf diesen Lehen Rechte und Pflichten. Diese Kronvasallen durften nun ihrerseits Land vergeben. Die Rechte waren dabei genau festgeschrieben. So mussten die Kronvasallen ihrem König gegenüber Treue und Gehorsam schwören. Das bedeutete aber nicht, dass ihnen der König alles befehlen durfte! Er durfte sie zu den Waffen rufen und Abgaben einfordern, gewisse Rechte ausüben aber das war es im Großen und Ganzen schon.

Die Macht des Königs war also sehr beschränkt. Ebenso dass der Vasallen ihren Vasallen gegenüber. Wenn Forderungen oder Befehle über das "angemessene Maß" hinausgingen, wurde geklagt oder sich geweigert, gelegentlich auch gekämpft. Es ist typisch für das Mittelalter, dass sehr genau auf die Einhaltung von Verpflichtungen und Rechten geachtet wurde und dass Privilegien, einmal erhalten, auch gegen den Willen des jeweiligen Herren, eingehalten werden.

Das funktionierte nicht immer und führte hin und wieder auch zu Fehden und kriegerischen Auseinandersetzungen, blieb aber jahrhundertelang ein doch erfolgreiches Konzept.

Durfte denn der Grundherr dem Bauern befehlen? Ja und nein. Er konnte ihm dann befehlen, wenn er sich auf die gegenseitigen Verpflichtungen berufen konnte, z.B. auf die festgelegten, kostenfreien Hand- und Spanndienste der Unfreien (da es lange keine richtige Geldwirtschaft gab, wurden Abgaben in Form von Naturalien aber auch Arbeit festgelegt). Aber der Grundherr durfte nicht mehr fordern, keine weiteren Tage und schon gar nicht die erste Nacht der Tochter vor ihrer Hochzeit! Die Befehle mussten also gesellschaftlich akzeptiert und vereinbart sein. Auch durfte der Grundherr seine Leibeigenen nicht zum Kriegsdienst verpflichten und es ihnen darum auch nicht befehlen. Denn diese hatten ihre Freiheit zugunsten bestimmter Privilegien aufgegeben - dazu gehört, dass sie keinen Kriegsdienst leisten mussten. Der Herr musste also ihren Schutz organisieren.

Auch im Krieg war Befehl und Gehorsam in unserem Sinne unbekannt, ja undenkbar! Die Vasallen waren zwar verpflichtet Gehorsam zu leisten, aber nicht als willenlose Befehlsempfänger wie moderne Soldaten. Ritter waren durch die Kraft ihres Eides gebunden, aber auch ihnen gegenüber konnte man nicht einfach befehlen die Nacht über Wache zu halten oder einen Angriff durchzuführen. Denn der Ritter hatte ja erstens das Recht auf eine standesgemäße Behandlung. Unstandesgemäße Befehle würde er also keinesfalls befolgen und würden den Befehlsgeber auch schlecht dastehen lassen. Auch sinnlose Angriffe ohne Rücksicht auf eigene Verluste wie es beispielsweise die Russen im 2. Weltkrieg taten, hätten Ritter nicht akzeptiert. Denn ihnen stand ja der Schutz ihres Herren zu. Das heißt jedoch auch wieder nicht, dass alles totales Chaos gewesen wäre. Um im Feld erfolgreich zu sein bedarf es einer Koordination und schnelle Entscheidungsbefugnisse.

Es gab oft Streit darum. Auf Kreuzzügen gab es Streit, wer nun die Befehle geben durfte: Der Kaiser, die Könige oder schlicht der Herzog, weil er mehr Ritter aufbringen konnte als sonst jemand? Es ist durchaus schon passiert, dass ein Herzog mitsamt seinen Soldaten und Ritter einfach abgezogen war, weil er sich seiner Ehre und Rechte beraubt sah und Kaiser und König dann erheblich geschwächt zurückblieben. Hindern konnten sie ihn nicht.

Schönes Beispiel:

Auf dem Dritten Kreuzzug zerstritt sich der österreichische Herzog Leopold um genau diese, bzw. ähnliche Fragen (welche Flagge gehisst werden durfte) mit den anwesenden Königen und reiste wutentbrannt nach Hause ab. Richard Löwenherz (einer der Könige) erlitt später bei seiner Heimreise Schiffbruch und musste über Land nach England ziehen - durch Österreich. Er versuchte sich zu tarnen, doch erfuhr sein Intimfeind davon und nahm ihn gefangen. Erst ein sehr großes Lösegeld befreite Richard Löwenherz aus der Gefangenschaft. Dies findet sich ja auch in der Robin Hood Geschichte wieder.


paulklaus  20.09.2023, 16:43

Fantastische (!!) Antwort ! Chapeau !

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paulklaus  20.09.2023, 17:10
@Eisenklang

Ich bin sehr am MA interessiert und "musste" deine Abhandlung zweimal lesen . SOO interessant !

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Eisenklang  20.09.2023, 18:13
@paulklaus

Es ist ja auch eine sehr spannende Epoche. Leider haben sich viele TerraX-Dokumentaristen und Spielfilmer daran zu schaffen gemacht und in viel Fleißarbeit 1000 Jahre Menschheitsgeschichte zu einer graugefilterten Karrikatur verzerrt.

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paulklaus  20.09.2023, 18:16
@Eisenklang

In unserem Hause sind Wörter wie "Terra x" und entsprechende pseudowissenschaftliche Sendungen VERBOTEN !!

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