warum spricht man bei Beuteltieren und Placentalia von einem Musterbeispiel für konvergente Evolution?

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Von konvergenter Evolution spricht man, wenn zwei Arten sich unabhängig voneinander an die gleiche ökologische Nische anpassen und dafür ähnliche Merkmale hervorbringen. Da man die Merkmale leicht für homolog (ursprungsgleich) halten kann, kann ein Vergleich dieser Merkmale, wenn man die tatsächliche Evolutionsgeschichte nicht kennt, zu der Fehlinterpretation eines gemeinsamen Ursprungs und somit zur fälschlichen Annahme einer näheren Verwandtschaft zwischen den beiden Arten führen.

Vor etwa 180 Mio. Jahren brach der ehemalige Superkontinent Pangaea vollständig in zwei Großkontinente auseinander: Laurasia im Norden und Gondwana im Süden. Die Theria (alle Säugetiere, die nicht zu den Eierlegenden Säugern (Monotremata) gehören und lebendgebärend sind), haben sich wahrscheinlich schon vor 160 Mio. Jahren in die beiden Linien der Beuteltiere (Marsupialia) und der Plazentatiere oder Höheren Säugetiere (Placentalia) getrennt. Darauf lässt der Fund von Juramaia sinensis schließen, einem Säugetier, das aufgrund seiner Zahnstruktur bereits eindeutig den Placentalia zugeordnet werden kann. Unter Einschluss der ausgestorbenen Stammlinienvertreter werden die Beuteltiere oft auch Metatheria genannt, entsprechend ist für die Placentalia der Begriff Eutheria in Gebrauch.

Der Ursprung der Beuteltiere liegt sehr wahrscheinlich in Asien. Dort, genauer in China, wurde mit Sinodelphis szalayi das mit einem Alter von etwa 125 Mio. Jahren bislang früheste bekannte Beuteltier gefunden. Diese Beuteltiere waren aber nicht die direkten Vorfahren der heutigen Beutelsäuger. Diese entwickelten sich vermutlich vor etwa 100 Mio. Jahren im heutigen Nordamerika, wohin einige der asiatischen Beuteltiere wohl ausgewandert waren. Von dort aus breiteten sich die Beuteltiere in ganz Laurasia aus.
Die Beuteltiere erreichten auch den südlichen Kontinent Gondwana, der seinerseits vor etwa 150 Mio. Jahren ebenfalls auseinanderzubrechen begann. Zunächst trennte sich Madagaskar von Afrika ab, anschließend spalteten sich Südamerika, Australien und Antarktika von Afrika ab. Schließlich trennte sich Südamerika von Australien und Antarktika und zuletzt erfolgte die Trennung zwischen Australien und Antarktika. Wann und wie die Beuteltiere Gondwana bzw. die einzelnen Bruchstücke genau erreicht haben, ist nicht bekannt. Die jüngsten Funde fossiler Beuteltiere aus Südamerika datieren aus dem Paleozän, sind also jünger als 66 Mio. Jahre. Von Antarktika sind Beuteltiere aus dem mittleren und späten Eozän belegt. Als der Kontinent vor etwa 35 Mio. bis 30 Mio. Jahren vereiste, starben die Beuteltiere dort aus. In Australien datieren die jüngsten Beuteltierfunde ebenfalls aus dem Eozän und sind rund 55 Mio. Jahre alt.

Auch die Placentalia haben ihren Ursprung wahrscheinlich in Asien. Darauf lässt der Fund des bereits erwähnten frühen Placentaliers Juramaia schließen. Sie besiedelten ebenfalls von Asien aus weitere Teile Laurasias und erreichten schließlich auch Gondwana. Die Höheren Säugetiere spalteten sich wohl im Zuge des weiteren Zerfalls von Laurasia in Eurasien und Nordamerika einerseits sowie andererseits Gondwanas in seine einzelnen Bruchstücke in vier Hauptlinien auf:

  • die Nebengelenktiere (Xenarthra) entstanden in Südamerika und sind bis heute weitgehend auf diesen beschränkt. Zu ihnen gehören die Gürteltiere (Cingulata) sowie die aus Ameisenbären (Vermilingua) und Faultieren (Folivora) bestehenden Zahnarmen (Pilosa).
  • Afrikanischen Ursprungs sind die Afrotheria. Zu ihnen gehören Rüsselspringer (Macroscelida), Tenrekartige (Tenrecoidea), Röhrchenzähner (Tubulidentata), Schliefer (Hyracoidea), Seekühe (Sirenia) und Elefanten (Proboscidea).
  • Die beiden übrigen Gruppen entstanden in Laurasia. Es handelt sich erstens um die Euarchontoglires. Zu ihnen gehören die Glires, die Hasenartige (Lagomorpha) und Nagetiere (Rodentia) umfassen, sowie die Euarchonta, die aus den Spitzhörnchen (Scandentia), Riesengleitern (Dermoptera) und Primaten (Primates) bestehen.
  • Als zweite Gruppe entstanden in Laurasia die Laurasiatheria. Sie umfassen die Insektenfresser (Eulipotyphla), die Ferae bestehend aus Schuppentieren (Pholidota) und Raubtieren (Carnivora), außerdem die Fledertiere (Chiroptera), sowie die Unpaarhufer (Perrissodactyla) und die Paarhufer inklusive der Wale (Cetartiodactyla).

In Nordamerika und Eurasien wurden die Beuteltiere zunehmend von den konkurrenzstärkeren Placentaliern verdrängt und starben dort aus. Auch in Afrika starben die Beuteltiere aus.

In Südamerika und vor allem in Australien jedoch waren die Verhältnisse genau umgekehrt. Aus bislang ungeklärten Gründen starben die Vertreter der Höheren Säugetiere in Australien weitgehend aus. Nativen Ursprungs sind dort nur einige Nagetiere sowie Fledertiere und Robben. Bevor der Mensch viele Säugetiere wie Kaninchen (Oryctolagus cunniculus), Fuchs (Vulpes vulpes) Hund (Canis lupus familiaris) und Hauskatze (Felis silvestris catus) als invasive Arten in Australien etablierte, war der Kontinent deshalb nahezu frei von Placentaliern. Die Beuteltiere erfuhren deshalb in Australien eine reichhaltige adaptive Radiation.
Die ökologischen Nischen, die anderswo von Placentaliern okkupiert worden wären, konnten daher in Australien von Beuteltieren besetzt werden. Dabei haben sich Arten in den unterschiedlichen Regionen, die aber die gleiche ökologische Nische besetzt haben, in ganz ähnlicher Weise an ihre Nische angepasst. Diese Formen, sowohl die australischen Beuteltiere als auch die außeraustralischen Placentalier, haben sich also konvergent (voneinander unabhängig) an die gleiche Lebensweise angepasst und ganz ähnliche Merkmale entwickelt.
Beispielsweise nehmen die Känguruhs (Macropodidae) die Rolle der grasfressenden Megaherbivoren ein, die anderswo (z. B. in Afrika) durch die zu den Paarhufern gehörenden Wiederkäuer (Ruminantia) eingenommen wird. Deshalb haben Känguruhs, ganz ähnlich wie die Wiederkäuer, ein mehrhöhliges Magensystem entwickelt, das ihnen als Gärkammer für den Aufschluss der schwer verdaulichen pflanzlichen Gerüstsubstanzen (Cellulose usw.) dient. Die Beutelmulle (Notoryctes) hingegen ähneln stark dem Maulwurf (Talpa europaea) und führen, genau wie dieser, eine unterirdische, grabende Lebensweise. Gleitbeutler (Petauridae) verfügen wie Flughörnchen (Pteromyini) und der ausgestorbene Beutelwolf (Thylacinus cynocephalus) nahm in Australien die Rolle des Spitzenprädators ein und ähnelte stark einem Wolf (Canis lupus), während die Beutelmarder (Dasyurus) die ökologische Nische von Mardern (Mustela) und Kleinkatzen (Felis) übernehmen und diesen verblüffend ähnlich sehen.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Biologiestudium, Universität Leipzig