Warum nimmt bei schwachen Säuren mit einer Verdünnung der Protolysegrad zu?

1 Antwort

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Dein Gedankengang ist richtig: Das Massenwirkungsgesetz erklärt das Phänomen. Um das etwas genauer zu sehen, schreiben wir das MWG so um, daß der Dissozia­tions­grad α=Dissoziierte Säure durch Gesamtmenge der Säure explizit auftaucht. Für nicht extrem verdünnte Lösungen können wir die Autoprotolyse des Wassers ver­nach­­läs­sigen; dann ist c(H₃O⁺)=c(A⁻)=αc₀ wenn wir die Einwaagekonzentration der Säure als c₀ bezeichnen. Man erhält:

HA + H₂O ⟶ H₃O⁺ + A⁻

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Die Funktion α(c₀} strebt für großes c₀ (c₀≫Kₐ) gegen Null und steigt mit fallender Kon­zentration an; für Essigsäure erhält man bei Verdünnung das folgende Diagramm:

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Die Grenze zwischen dem roten (Säure) und blauen (Acetat) Bereich ist dabei genau die vorher ausgerechnete Funktion α(c₀), die x-Achse gibt die Konzentration logarith­misch an (c₀=10⁻ˣ), die schwarze Kurve entspricht dem pH-Wert bei der entsprechen­den Konzentration, und die weiße Kurve ist die Ableitung davon.

Du siehst, daß die Essigsäure bei c₀≈1 mol/l (x=0) kaum dissoziiert ist, aber unter­halb von c₀≈10⁻⁶ mol/l ist sie praktisch vollständig dissoziiert und verhält sich dann wie eine starke Säure (insbesondere gilt dann bizarrerweise pH=−lg(c₀).

Ein komplizierteres Beispiel ist die Zitronensäure mit drei Dissoziationsstufen (pKₐ=​3.09, 4.75, 5.41). Das kann man nur noch numerisch lösen. Im ersten Diagramm zeige ich nur die relativen Anteile der vier Zitronensäure-Spezies, das zweite ist analog zum obigen zu lesen, aber es sieht wegen der vielen Teilchenarten deutlich komplizierter aus:

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Du siehst, daß je nach Konzentration die Lösungen deutlich verschieden zusammen­gesetzt sind und sehr unterschiedliche Ionen enthalten. Beachte auch die bekannte Beziehung, daß α=½ wenn pH=pKₐ (bei Bedarf kannst Du das leicht aus dem MWG ableiten).

Allerdings haben wir bisher das Autoprotolyse-Gleichgewicht verrnachlässigt. Der pH kann für eine Säurelösung nie über 7 steigen, daher können sehr schwache Säure (pKₐ≫7) niemals dissoziieren. Ein Beispiel dazu ist die Phosphorsäure (pKₐ=2.148, 7.198, 12.319). Da die zweite Dissoziationsstufe pKₐ≈7 hat, ist sie selbst bei unend­licher Verdünnung nur teilweise dissoziiert, und die dritte wird niemals aktiv:

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Also siehst Du jetzt selbst, dass die oft gehörte Aussage „Mit Verdünnung steigt die Dissoziation“ nur teilweise richtig ist: Säuren mit pKₐ≪0 sind immer vollständig dis­soziiert, und solche mit pKₐ>>7 sind es niemals. Für den pKₐ-Bereich dazwischen stimmt die Aussage allerdings — auch eine landläufig als „schwach“ bezeichnete Säure wie Essigsäure kann in der richtigen Verdünnung zu 100% dissoziiert sein.

(Weitere Säuren rechne ich Dir gerne auf Anfrage durch).

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Chemiestudium mit Diss über Quanten­chemie und Thermodynamik
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MeMyselfandI05 
Beitragsersteller
 14.05.2022, 08:26

Vielen lieben Dank für eine so ausführliche Antwort! Ich finde es schade , dass solche Informationen in den meisten Büchern nicht zu finden sind….:(

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