Schuldfrage Gretchens?

2 Antworten

Die eigene Mutter vergiftet, unehelicher Geschlechtsverkehr, Kindstötung bzw. illegale Abtreibung... War damals schon 'ne Hausnummer. Hinsichtlich des Alters könnte man das relativieren - allerdings wurden damals auch jüngere Kinder wie kleine Erwachsene behandelt...

Der (historische) Kontext gibt den Ausschlag.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – diverse Seminare, Prüfungen, Bachelor- und Master-Arbeit

Gretchen (in Goethes „Faust 1“) könnte vor allem der Kindstötung schuldig sein. Zwar wurde ihr auch der Tod der Mutter angelastet, den hat sie aber nicht verschuldet, da sie annahm, sie würde der Mutter nur einen Schlaftrunk reichen. Dass der von Mephisto vergiftet war, wusste sie nicht. Den Tod der Mutter hatte sie nie beabsichtigt, trotzdem wird sie vom Gericht als Muttermörderin behandelt, was ja dem Augenschein nach auch zutraf. Diesen entsetzlichen Widerspruch zwischen fehlendem Unrechtsbewusstsein und der Bezichtigung des furchtbaren Verbrechens des Muttermordes hat Gretchen psychisch nicht ausgehalten, sie verfiel in den Wahnsinn.

Deshalb kann man ihr eigentlich auch die Kindstötung nicht zurechnen, denn die hat sie im Zustand geistiger Umnachtung begangen. Deshalb ruft am Schluss des Dramas auch eine Stimme von oben: „Ist gerettet!“. Das soll wohl heißen, dass Gretchen nach göttlichem Urteil unschuldig ist.

So tritt am Ende von Faust II Gretchen als einer der Engel auf, die die Seele Fausts in die „höheren Sphären“ geleiten; das heißt, Gretchen ist von jeder Schuld freigesprochen.

Anmerkung: Goethe wird von vielen eine seltsame widersprüchliche Haltung zur Kindstötung vorgeworfen. Hier also, in Faust 1, ist er offensichtlich der Meinung, dass die Kindsmörderin die Verzeihung Gottes verdient hat (s.o.).

Im Fall der Kindsmörderin Johanna Catharina Höhn, die 1783 wegen Kindstötung hingerichtet wurde, hat er eine ganz andere Stellung bezogen. Der Herzog Carl August, Goethes Freund und Förderer, war ein Gegner der Todesstrafe. Als er ein 3-köpfiges Beratergremium, zu dem auch Goethe gehörte, um Stellungnahme ersuchte, votierten alle drei für die Hinrichtung der Catharina Höhn, also auch Goethe (und dies gegen den Willen des Herzogs!).

Goethe wird deshalb heute von vielen Kritikern Unmenschlichkeit vorgeworfen, zumal er doch der Dichter der Humanität ist, der solche vor Humanität „strotzende“ Werke wie „Iphigenie auf Tauris“ und „Das Göttliche“ („Edel sei der Mensch, hilfreich und gut…“) gedichtet hat. Man geht sogar so weit zu sagen, Goethe befürworte nur eine Humanität in der Dichtung, nicht jedoch in der Politik, was sich sehr negativ auf die deutsche Geschichte (bis hin zum Faschismus) ausgewirkt habe, zumal Goethe, die Lichtgestalt, einen enormen Einfluss auf die Psyche der Deutschen hatte und hat.

Man weiß allerdings nicht, ob für den Politiker Goethe der Fall der Catharina Höhn anders gelegen hat. Goethe hatte hierzu einen Aufsatz geschrieben, der verschollen ist. Möglicherweise sah er in der Tat der Catharina Höhn ein vorsätzliches, also ein viel schlimmeres Verbrechen als in der Tat des vom Wahnsinn getriebenen Gretchens.