Reichsverfassung 1871 - fortschrittlich?

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»Fortschrittlichkeit« und »Rückständigkeit« sind keine sehr genauen Begriffe. Bei der inhaltlichen Ausfüllung fließen Deutungen und Wertungen ein.

Vergleich zwischen Verfassung des Deutschen Reiches von 1849 und Verfassung des Deutschen Reiches von 1871

Beide Verfassungen enthielten einen deutschen Nationalstaat. Dies galt im 19. Jahrhundert als »Fortschritt« gegenüber einer Vielzahl deutscher Einzelstaaten mit teilweiser Kleinstaaterei und einem schwerfälligen und oft stark von einigen Einzelmächten abhängigen Organisationsrahmen, wie es das heilige Römische Reich (bis 1806) und der Deutsche Bund (1815 – 1866) waren.

Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1849 war »fortschrittlicher« (und die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 »rückständiger«) im Ausmaß der Kontrolle der Regierung (verantwortliche Reichsminister, Rechenschaftspflichtigkeit der Regierung, Möglichkeit einer Anklage gegen Reichsminister) und im Vorhandensein eines Grundrechteteils (1871 auf Reichsebene nicht geschaffen, es gab nur Grundrechte auf der Ebene von Einzelstaaten). Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1849 kann darin »rückständiger« erscheinen, ein aufschiebendes (suspensives) Veto der Reichsregierung (Kaiser und Reichsminister) zuenthalten, allerdings konnten bei der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 einige Monarchen zusammen praktisch über ihr Recht zur Ernennung der Regierungen ihrer Einzelstaaten über den Bundesrat (Vertretung der Länder, wobei die Vertreter von den Regierungen bevollmächtigt wurden) Gesetzesveränderungen verhindern.

Die von der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche am 28. März 1849 beschlossene Reichsverfassung, ist im Zusammenhang mit der vom Volk ausgehenden Revolution 1848/1849 entstanden. Aufgrund der Niederlage der Revolution konnte sie nicht in der Realität durchgesetzt werden. Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 ist in Zusammenhang mit einem Krieg gegen Frankreich und Verhandlungen mit den süddeutschen Staaten entstanden.

Die Staatsgründung 1871 ist durch Kriege (1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Östereich und seine Verbündeten; 1870/18171 gegen Frankreich) und wesentlich von oben, durch Fürsten und die Senate der Städte Hamburg, Lübeck und Bremen mit König Wilhelm I. von Preußen (und seiner Regierung mit Otto von Bismarck als preußischer Ministerpräsident und Außenminister) an der Spitze zustandegekommen. Die Grundlage war nicht demokratisch mit einem Prinzip der Volkssouveränität und einer Schaffung der Kaiserwürde durch eine gewählte Nationalversammlung, sondern monarchisch-obrigkeitlich. Parlamente haben aber an der Reichsgründung begleitend mitgewirkt. Der Reichstag des Norddeutschen Bundes und die Landtage der süddeutschen Staaten haben der Verfassung für das Deutsche Kaiserreich zugestimmt. Wirklich politisch gestaltet haben sie diese dabei nicht. Am 18. Dezember 1870 hat eine Delegation von Abgeordneten des Norddeutschen Reichstages (Kaiserdeputation) mit dem Reichstagspräsidenten Eduard Simson an der Spitze König Wilhelm I. von Preußen in Versailles besucht und ihn gebeten, die Kaiserkrone anzunehmen (Kernaussage der am 10. Dezember beschlossenen Adresse: „Vereint mit den Fürsten Deutschlands naht der Norddeutsche Reichstag mit der Bitte, daß es Ew. Majestät gefallen möge, durch Annahme der deutschen Kaiserkrone das Einigungswerk zu weihen“.).

hauptsächliche Gemeinsamkeiten

  • Staatsform: konstitutionelle Monarchie; erbliche Monarchie mit einem Kaiser als Staatsoberhaupt
  • föderalistische Staatsorganisation (Bundesstaat). Es gab einen Gesamtstaat (dessen Recht in seinem Zuständigkeitsbereich höher stand als das Recht einzelner Länder) mit einer regierenden Leitung auf Bundesebene und eine Reihe von Einzelstaaten, die einige Selbständigkeit und eigene Befugnisse hatten.
  • Gewaltenteilung: Es gab die unterschiedenen Staatsgewalten Legislative (gesetzgebende Gewalt/Macht), Exekutive (ausführende/vollziehende Gewalt/Macht) und Judikative (rechtsprechende Gewalt/Macht).
  • viele Befugnisse des Kaisers, z. B. Ernennung und Entlassung der Reichsminister (1849) bzw. des Reichskanzlers), militärischer Oberbefehl, völkerrechtliche Vertretung des Reiches, Erklärung von Krieg und Frieden und Abschließen von Bündnissen und Verträgen (unter Mitwirkung des Reichstages bzw. des Bundesrates und des Reichstages), Einberufung und Schließung des Reichstages und vorübergehende (1849: höchstens 3 Monate 1871: höchstens 90 Tage) Auflösung des Volkshauses (1849) bzw. des Reichstages (1871)
  • Gültigkeit von Regierungshandlungen des Kaisers nur bei Gegenzeichnung durch einen Reichsminister (1849) bzw. den Reichskanzler (1871)
  • Volksvertretung durch ein Parlament (Reichstag)
  • Ländervertretung (1849: Staatenhaus als ein Haus/eine Kammer des Reichstages; 1871: Bundesrat)
  • Wahlrecht: für männliche Staatsbürger mit einem Mindestalter von 25 Jahren allgemeine, unmittelbare/direkte, freie, gleiche und geheime Wahl der Abgeordneten im Parlament (1849: § 94 der Verfassung und Reichswahlgesetz vom 12. April 1849; 1871: Artikel 20 der Verfassung und Wahlgesetze; auf der Ebene der Einzelstaaten konnte das Wahlrecht allerdings anders sein, so blieb in Preußen das 3-Klassen-Wahlrecht)

hauptsächliche Unterschiede

  • Aufbau der gesetzgebenden Gewalt: In der Verfassung von 1849 lag die Gesetzgebung beim Reichstag (außerdem hatten Kaiser und Reichsminister ein Initiativrecht für Gesetze). Dieser bestand aus einem gewählten Volkshaus und einem Staatenhaus mit Vertretern der Länder (teils von den Regierungen ernannt, teils von den Parlamenten der Einzelstaaten gewählt). Es gab also ein Zweikammersystem und zu Reichsgesetzen war eine Zustimmung beider Kammern erforderlich. In der Verfassung von 1871 gab es den gewählten Reichstag (als Parlament mit einer Kammer) und als Vertretung der Länder den Bundesrat (Vertreter von den Regierungen ernannt). Eine Zustimmung des Bundesrates zu Reichgesetzen war erforderlich.
  • Ausmaß der Kontrolle der Regierung durch das Parlament: In der Verfassung von 1849 gab es verantwortliche Reichsminister, wobei nicht ausdrücklich bestimmt war, wem gegenüber und wie diese genau verantwortlich waren. Die Regierung war rechenschaftspflichtig und die Reichsminister konnten vom Reichstag beim Reichsgericht angeklagt werden (§ 126. i) Strafgerichtsbarkeit über die Anklagen gegen die Reichsminister, insofern sie deren ministerielle Verantwortlichkeit betreffen.). In den Einzelstaaten waren die Minister der Volksvertretung verantwortlich (§ 186). In der Verfassung von 1871 hatte der Reichstag auch Mitspracherechte (vor allem Gesetzgebung und Haushaltsbewilligung), aber nur schwächere Kontrollmöglichkeiten. Eine Anklage der Regierung war nicht möglich.
  • herausgehobene Stellung eines Reichskanzlers: In der Verfassung von 1849 gab es mehrere Reichsminister, in der Verfassung von 1871 in der Reichsleitung einen übergeordneten Reichskanzler und ihm untergeordnet mehrere Staatssekretäre. Außerdem hatte der Reichskanzler auch noch den Vorsitz im Bundesrat.
  • Grundrechte: Verfassung von 1849 enthielt einen umfangreichen Katalog von Grundrechten. Die Verfassung von 1871 enthielt dagegen keine Grundrechte, diese waren in den Verfassungen der Einzelstaaten festgelegt.
  • Veto-Frage: Die Verfassung von 1849 enthielt ein aufschiebendes (suspensives) Veto der Reichsregierung (Kaiser und Reichsminister) gegen Reichstagsbeschlüsse, die Verfassung 1871 kein Veto, allerdings hatte er als König von Preußen die Möglichkeit, zusammen mit einigen anderen Monarchen über den Bundesrat Gesetzesveränderungen zu verhindern.
  • Richterernennung: Nach der Verfassung von 1871 konnte der Kaiser die Richter am Reichsgericht ernennen.

»Fortschrittlichkeit« der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871?

Argumente Pro

  • Nationalstaat mit Gesetzesbefugnissen des Reiches und Gesetzesbefugnissen der Einzelstaaten
  • die Staatsgewalt bindende schriftliche Verfassung
  • Gewaltenteilung
  • ziemlich demokratisches Wahlrecht auf Reichsebene: Es gab für den Reichstag ein allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht für Männer ab 25 Jahren (wie 1849).
  • Gegenzeichnungspflicht des Reichskanzlers für Regierungshandlungen des Kaisers: Artikel 17: „Dem Kaiser steht die Ausfertigung und Verkündigung der Reichsgesetze und die Überwachung der Ausführung derselben zu. Die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers werden im Namen des Reichs erlassen und bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt.“

Argumente Contra

  • starke Machtstellung des Kaisers und der Fürsten nach der Verfassung: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 war eine konstitutionelle Monarchie und keine Demokratie. Die Präambel nennt einen geschlossenen ewigen Bund, den Monarchen eingehen). Es war ein starkes monarchisches Prinzip verwirklicht. Die politische und militärische Führung lag beim Kaiser (zugleich preußischer König). Der Kaiser hatte das Recht, das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen (Artikel 11). Er hatte das Recht, den Reichstag einzuberufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen (Artikel 12). Der Kaiser ernannte den Reichskanzler (Artikel 15) und verfügte die Ernennung und Entlassung von Reichsbeamten (Artikel 18). Damit konnte er auch entscheiden, ob er den Reichskanzler entließ oder nicht. Veränderungen der Verfassung konnten mit 14 Stimmen im Bundesrat abgelehnt werden (Artikel 78), Preußen hatte im Bundesrat 17 Stimmen (Artikel 6), über das Ernennungsrecht für die preußische Regierung konnte der Kaiser als König von Preußen darauf einwirken, von ihm nicht gewollte verfassungsändernde Gesetze zu verhindern. Der Kaiser konnte bei Bedrohung der öffentlichen Sicherheit in einem Teil des Bundesgebietes den Kriegszustand erklären (Artikel 68), also über die Geltung eines Notstandes/Ausnahmezustandes bestimmen. Weil in Militärsachen bei Meinungsverschiedenheiten im Bundesrat die Stimme des Präsidiums, wenn sie die bestehenden Einrichtungen aufrechterhalten wollte, ausschlaggebend war (Artikel 5) und das Präsidium des Bundes dem König von Preußen zustand (Artikel 11), besaß der Kaiser praktisch ein Veto in Militärsachen.
  • keine volle Parlamentarisierung/Fehlen einer parlamentarischen Regierungsweise:

Die gewählte Volksvertretung (der Reichstag) konnte der Regierung nicht das Misstrauen aussprechen und sie dadurch zum Rücktritt zwingen (Abwahl), nur Kritik äußern. Es fehlte also eine volle parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung. Der Reichstag hatte nur ein gewisses Mitspracherecht (Mitwirkung an der Gesetzgebung Artikel 5 und 23, Bewilligungsrecht für den Haushalt Artikel 29), eine gewisse Kontrollemöglichkeit und Herstellung von Öffentlichkeit durch Debatten. Weil der Kaiser in Militärangelegenheiten keiner Gegenzeichnung durch den die Verantwortung übernehmenden Reichskanzler bedurfte, lediglich für eine Kriegserklärung Zustimmung des Bundesrates (vgl. Artikel 11 und 17), war der Militärbereich, woweit es nicht um Verwaltung und Bewilligung von Geld ging, der parlamentarischen Kontolle entzogen und wurde auch nicht von der Regierung geleitet.

  • Fehlen eines Grundrechteteils auf Reichsebene die Verfassung von 1871: Die Verfassung von 1871 enthielt keine Grundrechte. Grundrechte gab es nur auf der Ebene von Einzelstaaten.

RK123456 
Beitragsersteller
 01.12.2021, 20:05

Dankeschön

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https://de.wikipedia.org/wiki/Bismarcksche_Reichsverfassung#:~:text=Als%20Bismarcksche%20Reichsverfassung%20wird%20die,1867%20ausgearbeiteten%20Norddeutschen%20Bundesverfassung%20hervor.

Diese Reichsverfassung bezog sich auf die Vereinbarungen bei der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867, von den demokratischen Grundsätzen aus der Paulskirche in Frankfurt 1848, wurde nichts übernommen, diese wurden erst modifiziert im Grundgesetz der BRD verankert.

https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/geschichte/artikel/der-charakter-der-reichsverfassung

Die Macht blieb bei den Obersten des Kaiserreiches, davon sicherte sich Bismarck selber als Macher eigentlich fast alle Rechte. Das Parlament war ohne Beschlussfähigkeit und praktisch nur ein ein Ort , wo Debatten geführt wurden.

Woher ich das weiß:Recherche