Platons "Politeia"

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Bei einer solchen Frage ist das Nennen eines Zusammenhangs und einer Textstelle günstig.

Ich nehme als Zusammenhang die Argumentation für die Existenz von drei verschiedenen Strebeformen der Seele/Teile der Seele/Arten der Seele bei Platon, Politeia 435 a - 441 c an.

Dazu bezieht sich Platon (mit seiner Dialogfigur Sokrates) auf vorkommende seelische/psychische Erscheinungen.

Der Durst/der Dürstende kommen 427 b – 439 c vor.

Im Kleinen wird am Dürsten gezeigt, wie eine Begierde auf einen spezifischen, ihr dem Wesen nach eigentümlichen Gegenstandbereich bezogen ist. Durst ist Begierde nach Trank. Durst als Durst will Trank, weil Durst vorhanden ist und gestillt werden möchte, nicht um irgendetwas anderen willen. Dies ergibt sich aus der Definition von Durst.

Im größeren Zusammenhang versucht Platon eine Unterscheidung von drei Strebeformen der Seele zu begründen. Dazu weist er auf Konflikte in der Seele hin. Allgemein gilt der Satz vom Widerspruch. Daher ist es unmöglich, daß etwas, das wirklich ein und dasselbe ist, gleichzeitig in derselben Beziehung und Richtung etwas Entgegengesetzte erleidet, ist oder tut.

Es kommt manchmal vor, daß jemand Durst hat, aber aus irgendeinem Grund trotzdem nicht trinken möchte.

Wenn nun gleichzeitig ein Streben und Angezogenwerden nach verschiedenen Richtungen geschieht, ist also in der Seele auch etwas vom Dürstenden (und allgemeiner vom Begehrenden) Verschiedenes. Es ist etwas, das durch Überlegung entstanden ist.

Ein kurz genanntes ähnliches Beispiel ist Hunger, die Begierde nach Essen. Nachdem Widersprüche und Kämpfe zwischen Begehrlichem (Begierde) und Vernünftigem (Vernunft/Überlegung) angesprochen sind, werden Konflikte zwischen Vernünftigem und einer dritten Strebeform aufgezeigt, die weder auf sinnlicher Begierde noch auf Vernunft beruht. Das Beispiel mit Leontinos fügt noch eine weitere Strebeform (das Sichereifernde; in deutscher Wiedergabe z. B. auch das Muthafte genannt) als Drittes hinzu, die weder auf sinnlicher Begierde noch auf Vernunft beruht. Damit ergibt sich eine Dreiteilung.

Ein Beispiel (439 e – 440 a) ist ein innerer Konflikt in der Seele des Leontinos, Sohn des Aglaion. Als dieser vom Piraieus her an der nördlichen Mauer außen entlangging, bemerkte er, wie in der Gegend Leichen lagen. Einerseits begehrte sie zu sehn, andererseits empfand er Abscheu. Er wandte sich ab, kämpfte eine Weile und verhüllte sich. Zuletzt aber lief er von Begierde überwältig mit weitaufgerissenen Augen zu den Leichen und rief aus: „Da ihr Unseligen/Elenden/Unholde (κακοδαίμονες), sättigt euch an dem schönen Anblick!"

Einerseits gibt es die Begierde, die Leichen zu sehen. Vom Bemerken ihres Daliegens geht ein Reiz aus, sie näher anzusehen, ihn lockt das Verlangen nach einem Sinnenkitzel.

Andererseits empfindet er Abscheu/Ekel, wendet sich ab und verhüllt sich sogar. Anscheinend möchte Leontinos die Versuchung unsichtbar machen. Am Ende siegt aber die Begierde.

Er ruft die eigenen Augen auf, sich an dem „schönen Anblick“ zu sättigen, aber die Anrede zeigt eine Ablehnung und eine Beurteilung als schlecht. Leontinos ist von einem Zwiespalt erfüllt und verhält sich seltsam und widersprüchlich. Er schilt seine eigenen Augen aus, als wenn es fremde Personen wären und nicht er selbst die Handlung des Hinlaufens und Ansehens ausführt. Er schimpft seine Augen aus, weil die Sensationsgier ihn zum Hinlaufen und Ansehen zieht, aber ihm gelingt nicht, diese Handlung folgerichtig zu unterlassen.

Die Geschichte bedeutet (440 a), daß der Eifer/der Zorn/die Wut (ἡ ὀργή) manchmal mit den Begierden im Kampf liegt, wie etwas anders (Fremdes) in einem anderen (Fremden).


Albrecht  21.08.2012, 23:29

Die folgende Erläuterung 440 b geht darauf ein, wenn dargelegt wird, jemand schelte/beschimpfe sich selbst und sei zornig auf das, was ihn in sich selbst überwältigt/bezwingt. Bei einem Streit zwischen zwei seelischen Regungen kann z. B. die sich ereifernde Regung (ὁ θυμός) Bundesgenosse der Vernunft (ὁ λόγος) werden.

Die Instanz, die im Beispiel Leontinos zuerst dazu bringt, sich abzuwenden, aber schließlich nicht stark genug ist, ist das sich ereifernde Gemüt (θυμός; zu dem griechischen Wort gibt es in der deutschen Sprache keinen einfachen gängigen Ausdruck, der ihm voll entspricht). Den θυμός versteht Platons Seelenlehre als in enger Verbindungen mit Meinungen stehend (wie die Begierde mit den Sinneswahrnehmungen). Leontinos hat zu einem sensationsgierigen Gaffen eine schlechte Meinung, vermutlich empfindet er so etwas als würdelos, wenig ehrenvoll, ungehörig, das Ansehen mindernd. Die bloße Meinung ist in der Situation nicht stark genug, sich durchzusetzen. Vernunft scheint nicht beteiligt, ihr Fehlen als Bundesgenossin des θυμός könnte zur Erklärung des Ausgangs beitragen.

Ein Bezug auf eine literarische Stelle dazu, sich selbst zu schelten, ist ein weiteres Beispiel, ein Hinweis auf Homer, Odyssee, 20 Gesang (υ), Vers 17 (Odysseus schilt sein Herz/seinen eigenen θυμός; der θυμός drängt ihn aus Empörung/Verbitterung, die mit den Freiern verbundenen Frauen sofort zu töten, was aber seinen Racheplan durch Vorzeitigkeit gefährden würde). Der θυμός zieht ihn zu etwas nicht Vernünftigen (auf sinnlicher Begierde beruht die seelische Regung, die ihn in die Richtung des Tötens bewegt, auch nicht).

Platon unterscheidet drei Teile in der Seele als Arten der seelischen Ausrichtung/seelische Strebeformen (die Teile/Arten/Formen werden εἴδη, γένη oder μέρη genannt):

1) das Vernünftige (τὸ λογιστικόν)

2) das sich Ereifernde (τὸ θυμοειδές)

3) das Begehrende (τὸ ἐπιθυμητικόν)

Alle Seelenteile/Strebeformen umfassen Denken, Fühlen und Wollen, nur in unterschiedlicher Art. Das Vernünftige ist mit Erkenntnis verbunden, das sich Ereifernde (gemeint ist nicht wütend sein, sondern eher etwas wie engagiert sein) mit Meinung und das Begehrliche mit Sinneswahrnehmung. Die Vernunft soll die Leitung übernehmen, eine kluge Fürsorge/Voraussicht (προμήθεια). Platon beschreibt das Verhältnis bei gutem Zusammenspiel (dem gerechten Zustand) als Freundschaft (φιλία), Übereinstimmung/Einklang (συμφωνία) und Harmonie (ἁρμονία).

Alle Seelenteile haben ein Eigenrecht. Begierden sollen nicht die Leitung übernehmen und nicht die Vernunft bloß als dienendes Hilfsmittel ohne Kontrollfunktion benutzen. Sie sind dafür anfällig, sich von einem Anschein täuschen zulassen („blind“ vor Begierde) und das angezielte Gute nicht zu erreichen. Das Begehrliche hat aber eine Zuständigkeit und das Vernünftige ist nicht dafür da, ein Lustgefühl wahrzunehmen, festzustellen (etwas fühlt sich angenehm an) und zu melden.

Hilfreich sind neben Erläuterung des Dialogs „Polteia“ Darstellungen zur Seelenlehre/Psychologie Platons. z. B.:

Michael Erler, Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Herausgegeben von Helmut Holzhey. Die Philosophie der Antike - Band 2/2). Basel ; Stuttgart : Schwabe, 2007, S. 375 – 389

Jörn Müller, Psychologie. In: Platon-Handbuch : Leben, Werk, Wirkung. Herausgegeben von Christoph Horn, Jörn Müller und Joachim Söder. Unter Mitarbeit von Anna Schriefl und Simon Weber. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2009, S. 142 - 154

Peter M. Steiner, Psyche bei Platon. Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 1992 (Neue Studien zur Philosophie ; Band 3). ISBN 3-525-30503-6

einen Abschnitt über die Seelenlehre Platons mit Unterscheidungen zu neuzeitlichen Theorien enthält:

Stefan Büttner, Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung. Tübingen ; Basel : Francke, 2000, S. 18 - 127

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Nehman 
Beitragsersteller
 30.08.2012, 22:59
@Albrecht

Danke für die tolle und ausführliche Antwort. Hat mir sehr geholfen.

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