Geschichten aus der Nachwendezeit?

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Die üblichen Geschichten rund um Westautos, Schrottimmobilien, Transferrubel und dem Hungerstreik der Kaliwerker in Bischofferode oder dem Ei, das 1991 in Halle/Saale nach Helmut Kohl geworden wurde, werden sicher noch kommen, deswegen beschränke ich mich auf was Persönlich erlebtes ... aber erstmal noch eine Tagesschau vom Dezember 1990 zum gesamtdeutschen Senden der ARD.

https://www.youtube.com/watch?v=q1kJp5TdNO0

Und das werde ich nie vergessen, weil es so unfassbar respektlos, gemein und eklig war: In meiner (westdeutschen) Heimatstadt kam es ca. 1993 nach einem Sportfest zu sexuellen Übergriffen auf Mädchen aus zwei aus der DDR übergesiedelten Familien. Die gingen in die Klasse meines Cousins. Die Täter stammten aus bekannten Familien - und als die Väter der Mädchen Anzeige erstatteten und den Konrektor der Realschule zur Rede stellten, wiegelte dieser nur ab, es seien "ja nur dumme Ossimädels", die selbst schuld gewesen seien, sich wohl nur wichtig machen würden und überdies ja sowieso niemanden interessieren. Er hat in Wahrheit nur die Täter gedeckt, weil sie im Sportverein waren, in dem er Übungsleiter war und dick befreundet mit den Eltern. Da blieb einem die Spucke weg. Der Konrektor hat seine eigentliche Strafe - der hatte noch mehr in dieser Art zuwege gebracht - bekommen, als er kurz nach seiner Pensionierung schwer an Krebs erkrankte und bald darauf starb. Das war ein verlogener, falscher Mann, nach außen hin so christlich und in der CDU und so volksnah und nett, nach innen hin ein Ekelpaket sondergleichen.

Es gab an dieser Schule auch eine Lehrerin, die noch nach der 2000 (!) offen rumstänkerte auf Schüler aus der "Dädärä" (DDR) und "Sch...-Russengesichter" und diese auch so anredete - wenn so was heute passieren und publik werden würde, um Gottes Willen, das wäre ja beinahe schon Rassismus, wenn's das nicht sogar wäre. 

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung

Marsi081203  05.06.2023, 22:24

Findest Du es gerecht (=gerechte Strafe), dass jemand an Krebs erkrankt und daran stirbt? Diesen Satz finde ich mehr als Schade. Auch deshalb, weil ich bisher Deine Beiträge durchaus als freundlich und offen empfunden habe. Das finde ich persönlich sehr daneben. Schade.

Und hatte ein Konrektor damals soviel macht, dass er "Polizeiliche Ermittlungen" stoppen konnte?

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rotesand  05.06.2023, 22:31
@Marsi081203

Ich sage es mal so: Er hat nicht nur vielen Kindern, die nicht in diesem Sportverein waren, sondern auch meiner Familie und mir sehr viel Leid angetan - ich habe jahrelang noch darunter gelitten, wie er mich, aber auch z.B. meine Oma, meinen Onkel und meinen Cousin behandelt hat und wie gemein und roh er zu uns war, selbst zu meiner Oma, über die er sich öffentlich lustig gemacht hat in ihrem Beisein, aber nach außen hin immer so nett lächelte und so "herzlich" tat. Gerecht finde ich das nicht, es hat mir damals leidgetan und als Jugendlicher bin ich auch auf die Beerdigung gegangen ... aber es hat mir damals schon gezeigt, dass eventuell manches zurück kommt.

In einer "Vorstadtmafia" mit CDU-Strukturen, wo der "Stadtsheriff" (natürlich auch Parteifreund) auch mal am Stammtisch notorischen Säufern riet, nach dem Zechen auf Strecken heimzufahren "wo keiner kontrolliert" (die Männer waren alle nicht mehr fahrtüchtig; mehr wie einmal blieb einer besoffen im Wald stecken und wankte dann heim oder schlief an der Bushalte seinen Rausch aus, ehe am nächsten Morgen klammheimlich ein Abschlepper kam) oder sagte, ER werde schon dafür sorgen, dass nix passiert und alle anweisen nicht zu kontrollieren, verwundert einen nicht viel. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen und war damals schon fassungslos. Die Anzeigen wurden aufgenommen - vom Stadtsheriff natürlich - und Unterlagen "gingen halt verloren".

Ich bin mehr als froh, dass ich da raus bin und nach Möglichkeit nur zweimal im Jahr erscheine. Noch immer denke ich drüber nach, ein Buch über "Erlebtes und Erlittenes" zu schreiben.

Es tut mir an dieser Stelle sehr leid, dass ich barsch wirkte und ich bitte um Entschuldigung, aber was damals vorfiel, hat mich noch einige Jahre verfolgt und stimmt mich noch heute fassungslos.

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Marsi081203  05.06.2023, 22:38
@rotesand

Chapeau für diese ausführliche Antwort. So kenne ich Beiträge von Dir. Dachte schon fast, dass Dir das "eigentliche Thema sehr sehr auf der Seele" brennt, wenn Du so reagierst, wie Du es in Deiner Antwort geschrieben hatte.

Und genau das hatte mich auch gewundert. Aber Du hast (für mich) viel klargestellt . ich kann Deine Antwort jetzt deutlich besser werten. Vielen Dank für Deinen Kommentar!

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rotesand  05.06.2023, 22:51
@Marsi081203

Gerne - ich war bei diesen Vorfällen zum Großteil live dabei oder habe sie aus erster Hand glaubwürdig erfahren. Was da gelaufen ist, war menschlich die unterste Schublade, was aber soooo christlich und nett und herzlich verkauft wurde.

Parallel zu dem, was ich schon schrieb, wurde in meiner Heimatstadt auch drüber hinweg gesehen, wenn der chronische Falschparker der örtliche "Zeitungsschreiber" war oder der 90-jährige Mercedes-Fahrer, der ständig ominöse kleine Unfälle verursacht und Fahrerflucht begeht halt derjenige gewesen ist, der den Vereinen jedes Jahr etwas Geld und ein Fass Bier spendet.

Wir hatten in der Klasse, soviel abrundend zum Konrektor, einen widerlichen Spanner, der in Umkleide, Schwimmbad, Sporthalle und WCs spannte. Es war so schlimm, dass vor allem die Mädchen Angst hatten. Der Konrektor war mit den Eltern des Jungen dick befreundet (Sportverein, klar). Als er mich ansprach, warum ich mich in der Schwimmhalle nicht in der Sammelumkleide (da war der ja dabei) umgezogen habe, sondern in der Einzelkabine saß und ich ihm das begründete, sagte er nichts mehr, aber ich spürte, er wusste alles. Ich war elf Jahre alt. Wenig später bekam ich mit, wie er dem Klospanner ganz leise sagte, er solle vielleicht aufpassen und bestimmte Leute meiden, weil deren Eltern nicht zu Scherzen aufgelegt sind und schon mit Klage und Anzeige drohten, aber andererseits ... solange er hier Konrektor ist, wird ihm nix passieren. Ich war fassungslos und so verängstigt, dass ich nicht mehr in diese Realschule wollte - das war der Auslöser für Schulangst, die erst dann abklang, als die "Dorflehrer" mit dem CDU-Parteibuch, der Diakonsweihe und der ach so herzlichen Art pensioniert wurden und der Konrektor mit dazu und neue, junge Lehrer von auswärts kamen, denen die "Strukturen" meiner Heimatstadt und "einflussreiche Namen" egal waren.

Das Ende vom Lied war, dass dem Klospanner nach Pensionierung des Konrektors die Hölle heiß gemacht wurde: Er stand mit 14, als er strafmündig geworden war, vor der Wahl - freiwilliges Wechseln der Schule oder Anzeige. Ich brauche wahrscheinlich nicht zu erwähnen, dass er von heute auf morgen nicht mehr im Klassenzimmer saß.

Danke für den Austausch und das Bereinigen ... wie gesagt, ich denke immer noch drüber nach, ein Buch zu schreiben, wenn ich mal ganz viel Zeit habe. Das handschriftliche Konzept gibt's schon... mal sehen, was draus wird!

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