Erlebnispädagogik sinnvoll?

4 Antworten

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Der berühmte Physiker und Nobelpreisträger 1992 Georges Charpak (gestorben am 29. September 2010) hat 1996 mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften und seinen Kollegen Pierre Léna und Yves Quéré eine unglaubliche renovative Bewegung in den französischen Grundschulen ins Leben gerufen, bekannt geworden unter dem Slogan: « La main à la pâte », im Sinne von « selbst Hand anlegen », um wissenschaftliche Phänomene erleben (am eigenen Leib) und begreifen zu können.

Der Unterricht in den wissenschaftlichen Fächern sollte praxisnah, hautnah gestaltet werden, nicht rein theoretisch. Dieses pädagogische Prinzip der Erlebnispädagogik wird mittlerweile in jeder dritten französischen Grundschule angewandt und hat sich selbst über die französischen Landesgrenzen hinaus einen Namen gemacht. Auch aus der Legasthenietherapie weiß ich, um nur ein Beispiel zu nennen, dass dem Erlernen auf multisensorieller Ebene eine besondere Bedeutung beigemessen wird.

Man stelle sich vereinfacht die Situation eines Ausgangs (Start)-und eines Zielortes vor, zu dessen Erreichen man normalerweise die kürzeste Strecke wählt. Bei Legasthenikern z.B. befindet sich auf dieser direkten Straße eine unüberwindliche Baustelle. Umleitungen müssen gefunden werden. Je mehr man sich bei diesen Umgehungswegen nicht nur auf eine Informationsquelle (meist visuel oder auditiv) verlässt, sondern verschiedene Imputs (Kinesthésie, auditiv, haptisch durch fühlen und tasten, visuel,..) miteinbezieht, desto mehr Informationen werden dem Gehirn zu ein und demselben Thema übermittelt. Desto mehr unterschiedliche Gehirnareale werden aktiviert, um schließlich ein Gesamtkonzept zu etablieren. Das ist ganzkörperliche erlebende Pädagogik.

Denn nicht alle Menschen nehmen Informationen auf demselben Imputweg am besten auf. Siehe nur die Klassifizierung in verschiedene Lerntypen.


Bonhoeffer  19.11.2010, 11:17

Chapeau! Diese Antwort zeigt profunde Sachkenntnis. DH

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mia68  19.11.2010, 14:36
@Bonhoeffer

...mit Einschränkung.

Was das "Lernen mit allen Sinnen" nämlich angeht (inbesondere hinsichtlich der Methoden innerhalb der Lerntherapie für legasthene Kinder), das steht hier völlig zu Recht - ist da gang und gäbe.

Allerdings gehört es überhaupt nicht (!) in den Bereich der "Erlebnispädagogik" - bei der nämlich geht es hauptsächlich um das Fördern und "Ingangbringen" von Sozialkompetenz (innerhalb eines gemeinsamen Gruppenerlebens).

Insofern: zwei völlig verschiedene pädagogische Ansätze!

Auch wenn es also bei beidem um einen "ganzheitlichen Ansatz" geht, sind sowohl die Zielvorstellungen als auch die Umsetzung/Methodik gänzlich verschieden.

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Die Vorteile der Erlebnispädagogik liegen insofern "auf der Hand", im Grunde, als diese Form (insbesondere für Jugendliche) sehr effektiv und -bewiesenermaßen- auch sinnvoll ist - kommt ihnen (auch aus entwicklungspsychologischer Sicht) einfach sehr entgegen, was da abverlangt wird: Erfahrungen mit einer geschlossenen Gruppe machen, Wagnisse einzugehen, (die eigenen) Grenzen kennen zu lernen, all das...

Nachteile seh´ich persönlich nur insofern, als die Umsetzung auch Risiken in sich bergen kann. Im Extremfall: auch in Form von Unfällen oder Verletzungen; wenn nämlich nicht mit ausreichend Sorgfalt und Achtsamkeit (im Miteinander) vorgegangen wird. Eine gute Vorbereitung (und erfahrene Pädagogen) sind also da wohl das A und O.

Und das macht auch gleich eine weitere Schwierigkeit deutlich: ein direkter Transfer in die "alltägliche Lebenswelt" ist kaum machbar; der Aufwand, das Unterfangen an sich dafür viel zu groß.

Insofern kann es nur bei "Einzel-Erfahrungen" bleiben - welche dann aber umso nachhaltiger sind, im optimalen Fall.

Hier steht noch bisschen mehr:

http://www.dr-toman.de/Erlebnispaedagogik.pdf

Sicher ist es sinnvoll, wenn die Erziehung alle Sinne anspricht. Das ist ja das einzige, das Erfolg haben kann.
(Contra-Argumente weiss ich keine, ausser wenn das Wort "Erlebnis-Pädagogik" von irgendwem in einem verlogenen Sinn verwendet würde).