Drama "Die Räuber", Frage zum Protagonisten "Franz"

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Franz Moor ist eine literarische Figur, vom Autor Friedrich Schiller entworfen. Das Drama ist aber nicht einfach allegorisch als bloße Darstellung zu einem Sinnbild gedacht. Friedrich Schiller wollte in dem ausgedachten Stück in menschliches Individuum darstellen, zur Anschauung bringen und in seinen Handlungen erklärbar und nachvollziehbar (wobei verstehen etwas anderes als gutheißen ist) gestalten. Daher ist es berechtigt, Franz Moor als Mensch zu sehen - nicht als Mensch, der tatsächlich gelebt hat, aber als Mensch, den es geben könnte.

Zu einer literarischen Figur können verschiedene Gesichtspunkte denkbar sein, die einander nicht ausschließen. Bei Franz Moor treffen mehrere Gesichtspunkte, etwas, das vorhanden ist.

Er ist in bösartig vorgehender, heimtückischer Intrigant, er ist in gewisser Weise ein Vertreter kalten aufklärerischen Rationalismus (wobei dies aber noch genauer untersucht und bestimmt werden sollte als einfach mit „Sinnbild des aufklärerischen Rationalismus) und er ist ein Mensch mit Empfindungen, jemand, der sich nach Anerkennung sehnt und in seiner Persönlichkeit durch ein als unglücklich erlebte Kindheit geprägt und davon in seinem Gefühlsleben beeinträchtigt ist.

Friedrich Schiller hat sich in seiner Vorrede zur ersten Ausgabe (1781) und in einer anonym erschienenen Selbstbesprechung seines Dramas (Wirtenbergisches Repertorium der Litteratur, 1782) zu Hautpersonen geäußert.

Er bezeichnet Franz Moor als „Mißmenschen“. Bei ihm erscheint das „Laster mit samt seinem ganzen innern Räderwerk“, ist die „Mechanik seines Lastersystems“ dargestellt. Franz Moor bezeichnet er als „überlegenden Schurken“, ein „Monstrum der sich selbst befleckenden Natur“, einen „grundbösen Menschen“, mit „gräßlichen Sophismen“ und „abscheulichsten Verbrechen“. Eine Größe als Bösewicht hat Franz Moor durch eine überragende Intelligenz. Franz Moor habe seinen Verstand auf Unkosten seines Herzens verfeinert. Wer es einmal so weit gebracht habe, dem sei das Heiligste nicht mehr heilig. Die Leichtigkeit, mit denen eine abscheuliche Philosophie zu Taten bestimmt, rufe am meisten Empörung hervor. Selbstkritisch überlegt er, vorangehende Auswege und Verirrungen seien naheliegender als ein plötzlicher Sprung zu äußerst starker Abscheulichkeit. „Unserm Jüngling, aufgewachsen im Kreis einer friedlichen, schuldlosen Familie, - woher kam ihm eine so herzverderbliche Philosophie? Der Dichter läßt uns diese Frage ganz unbeantwortet; wir finden zu all denen abscheulichen Grundsätzen und Werken keinen hinreichenden Grund als das armselige Bedürfnis des Künstlers, der, um sein Gemälde auszustaffieren, die ganze menschliche Natur in der Person eines Teufels, der ihre Bildung usurpiert, an den Pranger gestellt hat.“

Schiller hat allerdings vor allem im Monolog Akt 1, Szene 1, Hinweise gegeben, Franz Moor leidet an der Ungunst der Natur, als von Geburt an körperlich Benachteiligter (häßlich, mißgestaltet). Er hält das Verhalten seines Vaters für Zurücksetzung und Entwertung seines Wesens und Bevorzugung des Bruders. Er hat sich wohl als gedemütigten Außenseiter empfunden. Eifersucht, Neid und Haß spielen bei dieser Beurteilung und der Darstellung seines Bruders Karl Moor eine Rolle. Doch hat er allem Anschein nach tatsächlich wenig Teilhabe am Wärmestrom väterlicher Zuneigung genossen, war ungeliebt, wurde vom Vater emotional vernachlässigt (die Mutter kommt im Drama nicht vor). Es gibt eine Trotzreaktion auf das Versagen väterlicher Zuneigung. Ressentiment (von Gefühlen der Unterlegenheit, des Schlechtweggekommenseins und des Neides geprägte gefühlsmäßige Abneigung) treibt Franz Moor zu seinen Taten. Von daher läßt sich der Standpunkt vertreten, eine unglückliche Sozialisation in Kindheit und Jugend habe den Grundstein zu den Verbrechen gelegt, auch wenn diese nicht der einzige mögliche Weg sind.

Genauer zu klären ist, inwiefern Franz Moor ein kaltblütiger Rationalist der Aufklärung ist

Schiller deutet in seiner Selbstbesprechung die Raisonnements, „mit denen er sein Lastersystem aufzustutzen versteht“, als Resultat (Ergebnis) eines aufgeklärten Denkens und liberalen Studiums. Die Begriffe, die diese Gedanken voraussetzen, hätten ihn aber notwendig veredeln sollen.

Einem ersten Eindruck nach kann Franz Moor als reiner Verstandesmensch, mit scharfem Intellekt analysierend, erscheinen. Tatsächlich stecken aber durchaus starke Leidenschaften dahinter. Wenn nur ein kalter Kalkül beachtet wird und Franz Moor als Kopf ohne Herz gedeutet wird, entgeht etwas.


Albrecht  20.10.2013, 09:05

In Deutungen gibt es verschiedene Ansätze und eine Berücksichtigung des Menschen und seiner Kindheit kommt vor.

Beispiele mit teilweise unterschiedlichen Akzentsetzungen:

Hans Richard Brittnacher, Die Räuber. In: Schiller-Handbuch. Herausgegeben von Helmut Koopmann. In Zusammenarbeit mit der Deutschen Schillergesellschaft Marbach. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Stuttgart : Kröner, 2011, S. 344 - 371

Gert Sautermeister, Die Räuber : ein Schauspiel (1781). In: Schiller-Handbuch : Leben - Werk – Wirkung. Herausgegeben von Matthias Luserke-Jaqui unter Mitarbeit von Grit Dommes. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2005, S. 1- 45

Hans-Jürgen Schings, Schillers Räuber : ein Experiment des Universalhasses. In: Friedrich Schiller, Dramen. Herausgegeben von Matthias Luserke-Jaqui. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2009 (Neue Wege der Forschung), S. 11 - 35

Friedrich Schiller, Die Räuber ... verstehen. Erarbeitet von Matthias Ehm, Bettina Mim. Herausgegeben von Johannes Diekhans, Michael Völk. Paderborn : Schöningh, 2012 (EinFach Deutsch), S. 95 - 99

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Albrecht  20.10.2013, 09:04

Franz Moor legt Gedanken dar, wie sie bei materialistischen und atheistischen Aufklärern vorkommen, z. B. Julien Offray de La Mettrie, L'homme machine und Claude Adrien Helvétius, De l’homme, de ses facultés intellectuelles et de son education.

Schiller will wohl auch auf Gefahren eines Umschlagens in Barbarei bei radikalen Standpunkten hinweisen, wenn ein weiterer Schritt der Verneinung gegangen wird und Vernunftkritik mißbräuchlich instrumentalisiert wird.

Bei Franz Moor ist nur Zweckrationalität (Wahl von geeigneten Mitteln, um Zwecke zu erreichen) anzutreffen, keine Wertrationalität. Destruktive Tendenzen bloßer Zweckrationalität werden bemerkbar. In seinen Gedanken tritt eine instrumentelle Vernunft auf, eine Verabsolutierung formaler Vernunft.

Franz Moor lehnt sich gegen für ihn unglückliche Umstände auf, von ihm unverschuldete Gegebenheiten der Natur (Aussehen) und Gesellschaft (Bevorzugung des Erstgeboren im Erbrecht, indem dieser Erbe in der Herrschaftsstellung wird). Er hat eine überdurchschnittliche Geistes- und Entschlußkraft. Er will, auch mit Intrigen und Gewalt, die Ungunst der Umstände zu seinen Gunsten zu wenden.

Franz Moor ist in seinem Weltbild von rationalistischen Überlegungen geprägt. Die rationalistischen Argumentationen in seinen Darlegungen dienen allerdings auch dazu, sein Vorgehen zu rechtfertigen und mögliche Hemmnisse (Gott, Moral, Gefühle, menschlicher Bindungen) hinwegzufegen. Er ist nicht bereit, sich von etwas einschränken zu lassen. Kalte Rationalität wird eingesetzt, um Einschränkungen als nichtig zurückzuweisen, sie steht aber als Mittel im Dienst von Begehren. Seine Intellektualität ist zugleich analytisch und glühend.

Franz Moor fühlt sich weder an herrschende Vorstellungen noch an geltende Gesetze gebunden. Er glaubt, Gewissen und Moral als Vorurteile bzw. als Herrschaftsinstrumente, um Narren in Respekt halten zu können, entlarven zu können.

Franz Moor verwirft Verwerfung der Geschwister- und Elternliebe. Er führt einen Angriff auf die Blutliebe, eine in der Aufklärung weithin geschätzte Vorstellung von Familie, mit Mitteln aufgeklärter Logik (argumentative Logik und psychologische Konsequenz naturalistischer Betrachtungsart).

Konkurrenzdenken und Machtstreben kennzeichnen ihn. Er verhält sich selbstsüchtig. Ihm geht es um Durchsetzung seiner Machtansprüche innerhalb der Familie.

Ein zynischer Tonfall ist an manchen Stellen zu beobachten. Klügelnde Rationalität verhilft bei ihm aber auch Leidenschaft zum Ausdruck. Bei Franz Moor ist kaltes Analysieren und Sezieren mittels des Verstandes mit zugleich zäher und dynamischer Leidenschaft verbunden.

Er entwickelt Überlegenheitsgefühle und berauscht sich an eigenen Gedanken. Bei Franz Moor treten eine Umkehrung und ein Mißbrauch aufklärerischer Rationalität auf. Wenn er gleiches Recht für alle (scheinbar ein egalitärer Gedanke) verkündet, läuft dies darauf hinaus, daß für alle gleichermaßen rechtliche und ethische Schranken wegfallen. Franz Moor vertritt das, was Recht des Stärkeren genannt wird und spricht ein Herrschaftsprogramm despotischer Willkür aus. (1. Akt, 1. Szene).

„Jeder hat gleiches Recht zum Größten und Kleinsten; Anspruch wird an Anspruch, Trieb an Trieb und Kraft an Kraft zernichtet. Das Recht wohnet beim Überwältiger, und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze."

„Frisch also! muthig ans Werk! – Ich will Alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, daß ich nicht Herr bin. Herr muß ich sein, daß ich das mit Gewalt ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit gebricht.“

Dies ist eine Perversion aufgeklärter Mündigkeit und steht zu echtem Naturrechtsdenken in völligem Gegensatz. Eine sittliche Zweckbindung wird von ihm verneint.

Verzweifelt und innerlich zerstört steht Franz Moor am Ende da. Seine menschenverachtende Rationalität wird durch die Gewalt unterschwelliger/aus dem Unbewußten heraufziehenden Affekte und Kindheitserinnerungen überwältigt (zuerst bei einem Albtraum). obwohl er dies nicht möchte, bekommt er Gewissensqualen. Allerdings zeigt er bis zum Ende (Selbsttötung, als die Verfolger der Räuberbande nahen) keine Einsicht und Reue.

Die Rationalität ist bei Franz Moor auf einen Teil von Verstandes-/Vernunftfähigkeiten beschränkt, und wegen Leitung anderer Antriebskräfte deformiert und pervertiert.

Bei der Gesamtbetrachtung des Charakters ist zu berücksichtigen, wie Franz Moor so geworden ist. Die lange Geschichte von Benachteiligung, Kränkung und mangender Gefühlszuwendung kann psychologisch einiges erklären. Zu bedauern wäre, was an Menschlichkeit durch instrumentelle Rationalität deformiert worden ist. Ein Durchringen zu einer Befreiung von dabei herrschenden Leidenschaften hätte gleich ein Mehr an Vernunft und einen Gewinn im Gefühlsleben bedeuten können. Damit wäre er freilich nicht mehr die literarische Figur für das Geschehen des Dramas gewesen.

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Er ist ja beides. Du kannst ihn natürlich als ungeliebtes Kind, dessen Vater den Bruder immer vorgezogen hat, den alle wegen seines Äußeren verachten, sehen und gleichzeitig als den von seinen Gefühlen unbeeindruckten Rationalisten. Warum ist er von seinen Gefühlen so abgeschnitten? Warum wählt er den kalten rationalistischen Weg? Vielleicht weil er als Kind in seiner Gefühlswelt so zerstört wurde, dass er keinen Zugang mehr zu seinen Emotionen hat. Den Franz so psychologisch zu betrachten ist sicher eine neuere Sichtweise, allerdings gibt Schiller genug Hinweise, dass auch er diesen Aspekt gesehen hat.