Aus welchen Gründen lehnt Immanuel Kant das lügen ab?

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Nach dem kategorischen Imperativ sollte jede Handlung so sein, daß ihre Motivation zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung werden könnte. Nun ja, beim Lügen ist dies wohl kaum möglich. Wäre es normal und gesetzlich stets gedeckt, daß alle lügen, so wäre keine funktionierende Gesellschaft möglich. Daher mußte gerade Kants preußisches (Nietzsche spottete: "chinesisches") Denken die Lüge grundsätzlich ablehnen.


HamburgerTim 
Beitragsersteller
 14.12.2016, 18:58

Super, Danke!

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1. Wenn alle Menschen immer Lügen, dann gibt es keine Wahrheit.

2. Wenn es keine Wahrheit gibt, kann man per Definition nicht lügen.

3. Wenn alle Menschen immer Lügen würden, gäbe es keine Lügen.

ALSO: Der Lügende steht mit sich selbst grundsätzlich im Widerspruch.

Das gilt für das Lügen im Allgemeinen. (Hierbei wird schließlich der Begriff des allgemeinen Lügens aufgegriffen) 

Nach Kant hat eine Handlung erst einen moralischen Wert, wenn diese einzig aus Pflicht und nicht aus Neigung geschieht. Lügen und beispielsweise auch Selbstmord tust du allerdings aus Neigung, deswegen ist es falsch!

Immanuel Kant vertritt eine Pflichtethik. Mit Pflicht ist dabei nicht etwas gemeint, das von außen durch Autorität als Vorschrift auferlegt wird, sondern eine innere Bindung eines vernunftbegabten Wesens an etwas, das von der Vernunft bestimmt ist und eingesehen wird. Bei Kant bedeutet Pflicht die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung vor dem (moralischen) Gesetz.

Pflichten gelten objektiv, allgemein und unbedingt/notwendig. Kant nennt die Vorstellung eines objektiven, den Willen nötigenden Prinzips ein Gebot (der Vernunft). Die Formel des Gebots heißt Imperativ. Der kategorische Imperativ gibt an, was den Willen bestimmen soll. Dabei wird eine Maxime (subjektiver Grundsatz des Handelns) darauf überprüft, ob sie widerspruchsfrei als Bestandteil einer allgemeinen Gesetzgebung der Vernunft gedacht und gewollt werden kann.

Ehrlichkeit/Wahrhaftigkeit ist aufgrund dieser Auffassung eine Pflicht. Also wird das Lügen von Kant uneingeschränkt abgelehnt, auch wenn es mit einer guten Absicht verbunden ist. Ein Recht zu einer Lüge aus Wohlwollen gegenüber Menschen bestreitet er sogar in Fällen, in denen ein schlimmes Unrecht droht.

Kant nimmt an, eine Pflichtenkollision (Zusammenstoß einander widerstreitender Pflichten) könne nicht auftreten. Weil Kant eine Pflichtenkollision für ausgeschlossen hält, gibt es in seiner Ethik keine Abwägung verschiedener Pflichten, bei der im Fall einer Pflichtenkollision in dieser bestimmten Situation die Pflicht zur Hilfeleistung für einen Menschen in Not höherrangig eingestuft wird als ein Gebot, nicht zu lügen.

miteinander zusammenhängende Gründe für die Ablehnung des Lügens sind bei Kant:

  • Tugendpflicht zu Ehrlichkeit/Wahrhaftigkeit
  • Unmöglichkeit, einen Grundsatz zum Lügen widerspruchsfrei als Bestandteil einer allgemeinen Gesetzgebung der Vernunft zu denken und zu wollen
  • Beschädigung des Vertrauens durch Lügen (Unehrlichkeit/Unwahrhaftigkeit)
  • Untergrabung der Möglichkeit, Verträge einzugehen durch eine Erlaubnis zum Lügen
  • Wegnahme des Rechts, was die Menschheit zu Unrecht einer Grundlage des Zusammenlebens in einer Gesellschaft beraubt und ihr Schaden zufügt
  • Verletzung der Würde der Menschheit in seiner eigenen Person und in der Person anderer (die bloß als Mittel gebraucht werden, nicht zugleich als Wesen, die sich selbst Zwecke setzen) 


Erläuterung

Lügen beschädigen das Vertrauen. Aussagen könnten keinen Glauben auf ihre Ehrlichkeit finden. Dies untergräbt die Möglichkeit, Verträge einzugehen, bei denen ja die ehrliche Absicht ihrer Einhaltung Voraussetzung ist. Ein Vertrauen auf Einhaltung von Verträgen zu entfällt und damit wird die Institution Vertrag aufgehoben.

Die Rechtsbeziehungen in einer Gesellschaft gründen auf Verträgen. Mit der Zulässigkeit von Lügen würden allen auf Erklärungen in Verträgen beruhenden Rechten die Grundlage entzogen, was die menschliche Gesellschaft unrechtmäßig einer Rechtsgrundlage beraubt und damit der Menschheit überhaupt Schaden zufügt.

Bei einem Grundsatz, sich Geld mit dem Versprechen zu leihen, es später zurückzuzahlen, im Wissen, dies werde nicht geschehen, würde das Vertrauen in Versprechen untergraben. Der Wille gerät in einen Widerspruch mit sich selbst, weil der angestrebte Zweck (auf ein Versprechen späterer Rückzahlung aufgebaut) unmöglich gemacht würde, wenn ein solcher Grundsatz allgemeines Gesetz wäre und allgemein akzeptiert und befolgt würde. An die Erfüllung von Versprechen kann ja dabei vernünftigerweise nicht geglaubt werden.

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785. 2. Auflage 1786). Erster Abschnitt. Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntniß zur philosophischen. AA IV 403/BA 19:  
„Um indessen mich in Ansehung der Beantwortung dieser Aufgabe, ob ein lügenhaftes Versprechen pflichtmäßig sei, auf die allerkürzeste und doch untrügliche Art zu belehren, so frage ich mich selbst: würde ich wohl damit zufrieden sein, daß meine Maxime (mich durch ein unwahres Versprechen aus Verlegenheit zu ziehen) als ein allgemeines Gesetz (sowohl für mich als andere) gelten solle, und würde ich wohl zu mir sagen können: es mag jedermann ein unwahres Versprechen thun, wenn er sich in Verlegenheit befindet, daraus er sich auf andere Art nicht ziehen kann? So werde ich bald inne, daß ich zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne; denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein Versprechen geben, weil es vergeblich wäre, meinen Willen in Ansehung meiner künftigen Handlungen andern vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glauben, oder, wenn sie es übereilter Weise täten, mich doch mit gleicher Münze bezahlen würden, mithin meine Maxime, so bald sie zum allgemeinen Gesetze gemacht würde, sich selbst zerstören müsse.“

Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797). Zweiter Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Ethische Elementarlehre. Erster Theil. Von den Pflichten gegen sich selbst überhaupt. Zweites Hauptstück. Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst, blos als ein moralisches Wesen. I. Von der Lüge. § 9. AA VI 429:  
„Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde. Ein Mensch, der selbst nicht glaubt, was er einem anderen (wenn es auch eine bloß idealische Person wäre) sagt, hat einen noch geringeren Wert, als wenn er blos Sache wäre; denn von dieser ihrer Eigenschaft, etwas zu nutzen, kann ein anderer doch irgend einen Gebrauch machen, weil sie etwas Wirkliches und Gegebenes ist; aber die Mitteilung seiner Gedanken an jemanden durch Worte, die doch das Gegenteil von dem (absichtlich) enthalten, was der Sprechende dabei denkt, ist ein der natürlichen Zweckmäßigkeit seines Vermögens der Mittheilung seiner Gedanken gerade entgegen gesetzter Zweck, mithin Verzichtthuung auf seine Persönlichkeit und eine bloß täuschende Erscheinung vom Menschen, nicht der Mensch selbst.“

Immanuel Kant, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (1798). AA VIII 426 - 427:  
„Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder einem andern daraus auch noch so großer Nachtheil erwachsen; und ob ich zwar dem, welcher mich ungerechterweise zur Aussage nöthigt, nicht Unrecht thue, wenn ich sie verfälsche, so thue ich doch durch eine solche Verfälschung, die darum auch (obzwar nicht im Sinn des Juristen) Lüge genannt werden kann, im wesentlichsten Stücke der Pflicht überhaupt Unrecht: d. i. ich mache, so viel an mir ist, daß Aussagen (Declarationen) überhaupt keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte, die auf Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen; welches ein Unrecht ist, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird.“

Reinhard Brandt, Immanuel Kant - was bleibt? 2., durchgesehene Auflage. Hamburg : Meiner, 2010, S. 114 – 115:  
„Kant spricht ein absolutes Lügenverbot sowohl in der Rechtsbeziehung zwischen Menschen wie auch, in der Tugendlehre, in der Selbstbindung des Menschen an die innere Wahrhaftigkeit, aus (bes. VI 429 - 431 »Von der Lüge«).

Die Rechtsbeziehung ist das Thema in der Schrift Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (1798). Jemand gewährt einer anderen Person in seinem Haus ein Versteck vor dem ihn verfolgenden Mörder. Ist er gegenüber dem Mörder, falls sich eine Antwort auf dessen Nachfrage nicht vermeiden läßt, verpflichtet, die Wahrheit zu sagen? Nach Kant spielt in der Moral weder der Nutzen oder Schaden, den meine Aussage anrichtet, eine Rolle, noch ein Recht des designierten Mörders, sondern allein die Tatsache, dass eine Lüge das Recht der Menschheit überhaupt lädiert (vgl. VI 398, 4 – 6; »Aber sie thun überhaupt im höchsten Grade unrecht, weil sie dem Begriff des Rechts selber alle Gültigkeit nehmen […]«). Ich bin zur Wahrhaftigkeit im Verhältnis zu anderen Menschen absolut verpflichtet. Wahrhaftigkeit bedeutet, dass ich nichts sage, von dessen Wahrheit ich nicht überzeugt bin. »Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Convenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot: in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein.« (VIII 427, 24 - 26)

Es ist ein gewaltiger Fels, der hier vor allen listigen Ausflüchten liegt, mit einer Lüge selbstherrlich und für sich und die eigenen Gefühle und Kalküle vorteilhaft die Welt zu ordnen. Kants Imperativ besagt, niemals zu lügen, also etwas zu sagen, was nicht der eigenen Wahrheitsüberzeugung entspricht."

bes. = besonders

S. 118: „Dem Kantischen Lügenverbot bzw. Gebot der Wahrhaftigkeit liegt die Auffassung zugrunde, dass die Lüge ein internes Verhältnis von Wahrheitsüberzeugung und sprachlicher Äußerung gegenüber anderen ist. Es könne kein Recht geben, sich mit der Äußerung wissentlich in einen Gegensatz zur Wahrheitsüberzeugung zu stellen, weil damit alles Recht überhaupt im Prinzip aufgehoben werde. Kant isoliert das das Subjekt von allen äußeren Umständen und möchte so eine autarke Beziehung gewinnen, auf der sittliche Verhältnisse aufbauen können.“

Otfried Höffe, Immanuel Kant. Originalausgabe. 8., überarbeitete Auflage. München : Beck, 2014 (Beck'sche Reihe : Denker ; 506), S. 199 – 200:  
„Wie schon der Titel der Schrift anzeigt, geht es um ein Rechtsproblem, während das moralische Problem (die Tugendpflicht zur Ehrlichkeit) ausgeklammert wird (VIII 426, Anm.). Constant hatte die Frage aufgeworfen, ob jemand unter allen Umständen einen Rechtsanspruch auf Wahrhaftigkeit habe; daher der zugespitzte Rechtsfall: der Fragende hat Mordabsichten, der Gefragte will seinem Freund helfen. Constant behauptet, dieser Fall zeige, daß eine unbedingte Gültigkeit der Wahrhaftigkeitspflicht jede Gesellschaft unmöglich mache. Nach Kant trifft das genaue Gegenteil zu: es ist der Rechtsanspruch auf Lüge, der jede Gesellschaft unmöglich macht. Denn die Wahrhaftigkeit ist der Grund aller Verträge; Verträge werden sinnlos, wenn sie unter dem Vorbehalt stehen, daß die Vertragspartner von ihrem «Recht auf Lüge» Gebrauch machen. Sinnlos werden nicht nur die konkreten Verträge im Rahmen einer bestehenden Rechts- und Staatsordnung. Auch jener Urvertrag verliert seinen Sinn, der ein menschliches Zusammenleben nach Vernunftprinzipien, der eine gerechte Rechtsordnung konstituiert […]. Andererseits müssen wir auch nach Kant einen «Lügner aus Menschenliebe» nicht rechtlich verurteilen. Kant spricht nämlich von einem Notrecht (VI 235 f.), nach dem es Fälle gibt, die zwar nicht unsträflich, aber unstrafbar sind.“

f. = folgende

S. 200 – 201: „Die Möglichkeit einer Mehrdeutigkeit der Situation ist zuerst kein ethisches, sondern ein handlungstheoretisches, hat allerdings eine bedeutende ethische Konsequenz, die Kant vielleicht zu Unrecht bestreitet, nämlich daß es eine echte Pflichtenkollision geben kann (vgl. aber TL, VI 426). Wenn in einer gewissen Lage die Pflicht zur Ehrlichkeit der Pflicht zu helfen offensichtlich widerspricht - und ein offensichtlicher Widerspruch liegt weit seltener vor, als wir gerne annehmen - , dann ist eine konkrete Abwägung beider Pflichten erforderlich. Dabei kann man nach höheren, formaleren Grundsätzen suchen, an denen sich die abwägende Beurteilung orientiert. Aber diese höheren Grundsätze müssen wiederum moralisch sein und dürfen sich nicht auf persönliche Vorteile oder Sympathiegefühle berufen. Andernfalls dürfte man lügen, wenn man selbst oder ein Freund in Gefahr ist, und würde ehrlich bleiben, wenn es um einen Feind oder Fremden geht. Der höhere Grundsatz, der über den Konflikt zwischen dem Ehrlichkeits- und dem Hilfsgebot entscheidet, muß als moralischer Grundsatz schlechthin richtig, er muß im strengen Sinn allgemein gültig sein. Insofern bleibt er eine Maxime, die sich im Gedankenexperiment der Verallgemeinerung als kategorisch verbindlich ausweist.“

TL = Tugendlehre

Der kategorische Imperativ (im Folgenden kurz KI) lautet in seiner Grundform: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Er ist im System Immanuel Kants das grundlegende Prinzip der Ethik. Er gebietet allen endlichen vernunftbegabten Wesen und damit allen Menschen, ihre Handlungen darauf zu prüfen, ob sie einer für alle, jederzeit und ohne Ausnahme geltenden Maxime folgen und ob dabei das Recht aller betroffenen Menschen, auch als Selbstzweck, also nicht als bloßes Mittel zu einem anderen Zweck behandelt zu werden, berücksichtigt wird.

Darum lehnte Kant die Lüge ab.

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