Ab wann kann man von einem "Deutschland" sprechen?

10 Antworten

Ich würde schon früher - nämlich beim Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ansetzen. Dort liegen zumindest die Wurzeln:

"Als historischer Beginn der deutschen staatlichen Tradition wird oft der 2. Februar 962 angesehen, an dem Otto I. in Rom zum römisch-deutschen Kaiser gekrönt wurde. Der Terminus regnum Teutonicum („deutsches Königreich“) wurde ab dem 10. Jahrhundert als Bezeichnung für das Ostfrankenreich benutzt" (Quelle: Wiki)

Mitte des 18. Jahrhunderts ungefähr taucht in einigen Dokumenten der Begriff "Heiliges Römisches Reich deutscher Nation" auf, der bis daher nicht verwendet worden war. Nach Forschungsergebnissen von Prof. Reinhart Koselleck soll das HRRdN erstmals von einem Bibliothekar in Braunschweig verwendet worden sein, der in einem Quellenverzeichnis Dokumente des HRR zu Dokumenten des HRRdN machte und die lateinischen Dokumente verfälschend so übersetzte.

Bis dahin hatte es nur den Begriff deutscher Lande (oder in zeitgenössischer Sprache meist eher **teutscher*) gegeben, wobei es auf den Plural ankommt. Gemeint waren Länder, die von der deutschen Sprache kulturell geprägt waren.

Interessant ist dabei, dass sogar der Name der Sprache keine Schöpfung von "Deutschen" gewesen war, sondern von anderen Völkern, die so etwas wie "Deutsche" für sich definierten, lange bevor die das selbst taten. Das Wort "Deutsch" geht darauf zurück, dass - vor allem - Italiener Reisende (wie vor allem Kaufleute) von nördlich der Alpen, die Mundarten sprachen, die für sie gleich klangen, als ein Volk verstanden. Aus der Bezeichnung, die die für ihre Sprache verwendeten, machten die dann eine Sammelbezeichnung für diese germanischen Stämme. Aus dem alt- und mittelhochdeuschen "tiutisk" wurde im Italienischen "Tedesco".

Tiutisk wiederum ist ursprünglich kein Eigenname für eine bestimmte Sprache, sondern die Bezeichnung für das Gegensatzpaar zur Bildungssprache Latein. Wenn man nicht Lateinisch sprach, sondern volkstümlich, dann sprach man tiutisk.

Das Wort wäre grundsätzlich auf jede beliebige Sprache anwendbar gewesen. Wenn heute ein Engländer volkstümlich spricht, also gewissermassen "Slang", dann wäre "Slang" sozusagen die Entsprechung für "Tiutisk".

"Wo kommen Sie her?" - "Oh, I am from Essex" - "Hm, kenne ich nicht. Wie heisst denn Ihre Sprache?" "Oh, I am speking Slang". "Aha, das ist ein Slang. Der ist wohl aus Slangland".

Das ist ein Versuch, darzustellen, wie heute ein Engländer ankommen würde, der den Begriff "England" nicht kennt, wenn es kein solches Land gibt, nur ganz viele Landschaften, die kein Zusammengehörigkeitsgefühl kennen. Der Deutsche, der hier fragt, hat keine Lust, die Namen sovieler ferner Länder zu lernen, der will, dass alle, die so reden, aus einem Land kommen. Wenn der Mann nun antwortet, dass er Umgangssprache spricht, entsteht daraus eben der Name des Landes!

Natürlich empfindet sich ein Land selbst nicht als "Umgangssprachland", sondern braucht einen Eigennamen. Aber erst, wenn die Leute selbst sich als Einheit empfinden. Und das haben die Bayern, Württemberger, Brandenburger usw. eben noch nicht lange getan. Erst kam die Entdeckung der gemeinsamen Sprache, die erst mit dem Buchdruck bewusst wurde.

Intellektuelle entdeckten dann erst im 17. und 18. Jahrhundert das "Deutschland". Zeitgleich sagte auch Richelieu in Frankreich: "Deutschland ist nur ein Begriff auf der Landkarte und das soll es auch bleiben".

Und erst um die Zeit der Französischen Revolution erreichte das Bewusstsein, ein "Volk" zu sein, breitere Kreise als die von Professoren.

Die erstVorform eines deutschen Staatswesens ist m.E. der Deutsche Bund von 1815, der erste deutsche Staat tatsächlich das Reich von 1871.

Alle Versuche, frühere "deutsche" Staaten zu finden, entspringen einem Suchen, das etwas bestimmtes unbedingt und angestrengt finden will und dafür mythologisiert, verdrängt und verfälscht. Im 19. Jahrhundert war das grosse Mode, weil nationale Identitätsfindung angesagt war. In so einem Klima fallen dann verfälschende Übersetzungen (siehe Anfang) auf fruchtbaren Boden.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen diese nationalistischen Verfälschungen wieder aus der Mode.

Vor 1871 kannst Du eben von keinem Deutschland sprechen. Die Frage, was Du zu "Deutschland" sagen willst, bevor es das gab, ist ungefähr so logisch notwendig wie die Frage: "Als was ich von Sven sprechen, 100 Jahre bevor er geboren wurde?".

Die Gegenden, die heute Deutschland sind, bildeten damals eben KEINE Einheit. Es gab Staaten, die ganz andere Zuschnitte hatten und z.B. aus Gebieten bestanden, die heute Deutschland, Polen, Russland und Litauen sind (Preussen).

Und der Deutschsprachige Staat Österreich, der das HRR führte, liegt überhaupt nicht auf Territorium, das heute zu Deutschland gehört! Dasselbe gilt für Rom, das auch Teil des HRR war!

Sich einen Namen für jemanden zu suchen, den es noch nicht gibt, ist rational nicht notwendig. Man braucht von Sven nicht zu sprechen, bevor es ihn gar nicht gibt.

Das "Historiker" wie Guido Knopp so etwas dennoch machen, ist bekannt, zeigt damit aber (unter vielem anderen) auf, warum der kein seriöser Historiker ist, sondern ein Entertainer, der Instinkte und Gefühle bedient.


Kaimosi  27.11.2012, 00:05

Das ist auch gut, vor allem der Bezug zum Deutschen Bund, ein - gelinde gesagt - preußisch angehauchter Verbund. Man wollte Österreich gerne dabei haben - das ganze Deutschland soll es sein -, es wäre aber schon wegen den slawischen Gebieten zu einer ähnlichen Problematik gekommen die uns dann 1914 trotzdem ereilte. Rückblickend ist es erstaunlich wie erfolgreich Österreich mit Ihrer Annäherung an den Ostblock letztendlich geworden ist. Wien ist heute das Tor nach Osteuropa, also wuchs da doch noch zusammen, was das HRR eher mit Gewalt und Härte an sich schweißte...

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Freiseinohja  25.07.2017, 20:53

Bei Wikipedia steht unter "Deutsch (Etymologie)" alles genau, alles weitere erklärt hier bei GF der Artikel "Woher kommen wir Deutschen eigentlich" also diverse Kommentare dort. Ganz so wie du, derdorfbengel, es beschreibst, ist es nämlich nicht.

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MacX1985  07.12.2020, 17:27

"Mitte des 18. Jahrhunderts ungefähr taucht in einigen Dokumenten der Begriff "Heiliges Römisches Reich deutscher Nation" auf, der bis daher nicht verwendet worden war."

Der Begriff kam tatsächlich Ende des 15. Jahrhunderts auf, und wurde nach dem 16. Jahrhundert auch nur selten weiter benutzt. Er bedeutet auch nicht das, was vielfach angenommen wird: Das Reich in Hand der deutschen Nation, sondern vielmehr "der deutschsprachige Bereich des Reiches".

Was allerdings im 17. und 18. Jahrhundert vermehrt auftauchte war der Begriff des "Deutschen/Teutschen Reichs", und zuletzt der einzig gebrauchte Begriff.

"Bis dahin hatte es nur den Begriff deutscher Lande (oder in zeitgenössischer Sprache meist eher **teutscher*) gegeben, wobei es auf den Plural ankommt. Gemeint waren Länder, die von der deutschen Sprache kulturell geprägt waren."

Der Singularbegriff Deutschland, seiner Zeit "Dutschelant" kam bereits in einer zeitgenössischen Übersetzung der Goldenen Bulle 1365 auf. Luther und seine Zeitgenossen sprachen bereits recht häufig von "Deutschland".

"Interessant ist dabei, dass sogar der Name der Sprache keine Schöpfung von "Deutschen" gewesen war, sondern von anderen Völkern, die so etwas wie "Deutsche" für sich definierten, lange bevor die das selbst taten. Das Wort "Deutsch" geht darauf zurück, dass - vor allem - Italiener Reisende (wie vor allem Kaufleute) von nördlich der Alpen, die Mundarten sprachen, die für sie gleich klangen, als ein Volk verstanden. Aus der Bezeichnung, die die für ihre Sprache verwendeten, machten die dann eine Sammelbezeichnung für diese germanischen Stämme. Aus dem alt- und mittelhochdeuschen "tiutisk" wurde im Italienischen "Tedesco"."

Ja, und nein. Es war zunächst eine reine Sprachbezeichnung im Frankenreich gewesen, als man zwischen den Franken lateinischer/französischer Sprache und denen germanisch/fränkischer Sprache unterscheiden musste. Die Italiener kamen allerdings mit dem verallgemeinernden Volksbegriff auf, der dann wiederum etwas verzögert von den künftigen Deutschen als Selbstbeschreibung benutzt wurde. Aber wir sprechen da von der lateinischen Variante "theodiscus" (Anfang/Mitte 10. Jahrhundert), nicht dem mittelhochdeutschen "diutsch" (Ende 11. Jahrhundert), was möglicherweise unabhängig voneinander entstand.

"Und das haben die Bayern, Württemberger, Brandenburger usw. eben noch nicht lange getan. Erst kam die Entdeckung der gemeinsamen Sprache, die erst mit dem Buchdruck bewusst wurde."

Also, die Bildungsschichten haben sich durchaus vor Zeiten des Buchdrucks als Deutsche verstanden, ansonsten hätte die Adressierung dieser als "Deutsche" in mittelalterlichen Schriften keine Bedeutung gehabt.

Wie es mit Bauern ausgesehen hat, darüber lässt sich nur spekulieren... aber ebenso, ob sie sich als Bayern oder Brandenburger gesehen haben. "Baiern" vielleicht noch eher, weil es sich dabei um einen frühmittelalterlichen Großstamm handelte, aber "Brandenburg" ist als Reichslehen erst im Laufe des 12. Jahrhunderts entstanden, als man schon längst von "Deutschen" sprach. Ob "Brandenburger" in dieser Zeit je eine ethnische Bedeutung gewann, wage ich zu bezweifeln.

"Die erstVorform eines deutschen Staatswesens ist m.E. der Deutsche Bund von 1815, der erste deutsche Staat tatsächlich das Reich von 1871."

Wieso gerade der Deutsche Bund und nicht etwa das mittelalterliche deutsche Königreich (regnum teutonicum). Der Deutsche Bund war lediglich ein freiwilliger Zusammenschluss aus Ländern, die vormals zum HRR gehörten, während das deutsche Reich des Mittelalters ein monarchisch geführter Feudalstaat war.

"Vor 1871 kannst Du eben von keinem Deutschland sprechen. Die Frage, was Du zu "Deutschland" sagen willst, bevor es das gab, ist ungefähr so logisch notwendig wie die Frage: "Als was ich von Sven sprechen, 100 Jahre bevor er geboren wurde?"."

Die Frage war nicht nach dem heutigen Völkerrechtssubjekt, das gemeinhin "Deutschland" genannt wurde, sondern nach einem Gebilde, das entweder seiner Zeit als Deutschland bekannt war, oder diese Bezeichnung später erhalten hat. Und das ist beim deutschen Reich des Mittelalters der Fall.

"Und der Deutschsprachige Staat Österreich, der das HRR führte, liegt überhaupt nicht auf Territorium, das heute zu Deutschland gehört! Dasselbe gilt für Rom, das auch Teil des HRR war!"

Rom war weder Teil des HRR noch Deutschlands, Österreich aber beides.

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Eigentlich schon immer, die Leute wußten welche Länder deutsch waren und welche nicht. Der politische Zusammenschluß kam nur relativ spät bzw. mehrmals.

Ich persönlich würde sagen ab 1815. Den während der napoleonischen Kriege kam erst so richtig der Begriff deutsch zum tragen.

Ich würde ab 1832 von der Idee der deutschen Nation sprechen, die Ideale von 1848 konnte man ja leider - oder zum Glück - nicht komplett umsetzen.

Tatsache ist, dass man wirklich erst bei der Reichsgründung 1871 von einem Deutschland sprechen kann. Der Begriff Deutsche stammt aus dem MA, aber das Nationalgefühl der Deutschen kam erst beim Hambacher Fest und der etwas später folgenden Revolution zum Tragen.


Kaimosi  26.11.2012, 20:45

Jetzt ringe ich mir noch eine etwas weiterführende Antwort ab, einfach weil mir die Entstehung der deutschen Nation und das Hambacher Fest sehr nahe gehen. Ich denke dieser Patriotismus war bis zur Reichsgründung 1871 der letzte, auf den ich auch heute noch ein wenig Stolz bin, oder sagen wir es mit den Worten eines großen Deutschen Dichters:

"Ja, dieser Börne war ein großer Patriot, vielleicht der Größte, der aus Germanias stiefmütterlichen Brüsten das glühendste Leben und den bittersten Tod gesogen! In der Seele dieses Mannes jauchzte und blutete eine rührende Vaterlandsliebe, die ihrer Natur nach verschämt, wie jede Liebe, sich gern unter knurrenden Scheltworten und nergelnden Murrsinn versteckte, aber in unbewachter Stund desto gewaltsamer hervorbrach!" (Heinrich Heine)

Ludwig Börne war ein Patriot und wurde zum Hambacher Fest umjubelt, obwohl man nur 100 Jahre später seine Brüdern und Schwestern industriell ermordete und verwertete, es gibt überhaupt nichts in der deutschen Geschichte, was widersinniger und verwerflicher war, als die Juden in unserer Mitte, großartige Denker, Mäzene und ausgesprochene Patrioten zu Untermenschen und Opfern zu degradieren. Dort starb der deutsche Geist, der bereits vom 3. Kaiser des neuen Reiches auf so schändliche Weise gewürgt und gemeuchelt wurde...

Es ist schade für uns und unsere Kinder, im Gegensatz zu den Franzosen, Amerikanern und Briten, werden wir immer ein verkrüppeltes Rückrat behalten, oder zumindest noch weitere 50 Jahre an diesem Erbe zu knabbern haben. Ich denke die Revolution von 1848 und die nationale Bewegung ab 1812 waren die größten Momente dieser Nation, die ja durchaus Ihre Verdienste hat, als Wirtschaftsmotor, Demokratie-Vorbild und sicher auch als kulturelle Heimstätte von großen Denkern und Dichtern. Aber wir wären weitaus großartiger und mit uns selbst im Reinen, wenn wir uns den letzten Kaiser und den Braunauer gespart hätten. Nun habe ich mich als romantischer Patriot geoutet, aber ich kann es nicht anders ausdrücken...

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