Das Zitat stammt aus Sophokles' Antigone. In diesem Drama widersetzt sich Antigone dem Verbot, ihren im Kampf gegen Theben gefallenen Bruder zu beerdigen. Zur Strafe wird sie eingemauert und erhängt sich. Als König Kreon, der das Verbot ausgesprochen hat, vom Tod Antigones erfährt, singt der Chor, beginnend mit
πολλὰ τὰ δεινὰ κοὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον πέλει·
(Vieles Gewaltige lebt, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch)
Hier sind zwei Strophen des Chors in Auswahl:
Chor
Vieles Gewaltge lebt, und doch
Nichts gewaltiger denn der Mensch;
Weil auf dunkele Flut der See,
Von Südstürmen umhergedrängt,
Er tritt des Wogengetoses
Empörten Schwall hindurch.
Die Erde selbst, der Götter höchste,
Nimmer zu tilgende, nie
Zu ermattende, müht er mit kreisendem Pflug,
Mit der Rosse Geschlecht, von Jahr
Zu Jahr sie wendend.
Zweite Gegenstrophe
Mit listiger Künste Geschick
Auch über Verhoffen begabt,
Tritt bald er zum Argen und Guten
hin. Sieh, er pflegt
Des Landes Satzung und eidheilges Recht
Ehrenvoll; ehrentblößt
Sei, wer, dem Edlen nicht
Gesellt, mit Trotz Frevel übt.
Nimmerdar an meinen Herd
Gelang er noch in meinen Rat,
Tut er solches
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Das kann man so verstehen:
Der Mensch ist ein erschreckendes, überraschendes Wesen, eines, das über sich selbst staunen und erschrecken kann. Er kann Großes erreichen und errichten, aber er kann eben sowohl zum Argen als auch zum Guten hintreten, Böses und Gutes bewirken.
Aus dieser Erkenntnis muss aber nicht gefolgert werden, dass der Mensch etwas schrecklich Böses sei, nein, er kann Gutes bewirken.
So hat auch der britische Premier Boris Johnson das Zitat, übrigens auf Griechisch, am 24.9.2021 vor der UNO benutzt. Er verwies auf den menschengemachten Klimawandel, dem der Mensch aber auch wieder entgegenwirken kann.
Das ist nur eine sehr einfache, etwas zu einfache Interpretation. Dieser Ausspruch ist immer wieder, je nach Zeitgeist, anders interpretiert worden.
Als eine Art Gedankenanstoß, wenn man sich mit den „großen” Fragen der Geschichte befassen möchte, eignet sich der Spruch sehr gut.
Übrigens wird die Begründung Antigones dafür, dass sie gegen das Verbot Kreons verstoßen hat, auch immer wieder zitiert:
Οὔτοι συνέχθειν, ἀλλὰ συμφιλεῖν ἔφυν.
Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da.“
(Sophokles, Antigone 523)
Dieser Ausspruch ist einer der am häufigsten missverstandenen Sätze der Geschichte. Er klingt edel, aber Antigone meint damit wohl eher, dass ihr der Bruder wichtiger ist als das Verbot Kreons.