Deine Frage erinnert mich an eine Begebenheit aus einem Seminar zur finnischen Landeskunde.
In Finnland gibt es eine Volksliedgattung, in der Mütter ihre Söhne besingen, die in den Krieg gezogen sind. Das Singen geht dann irgendwann in Weinen über. Du kannst dir vorstellen, dass diese Art von Volksliedern nicht gerade neu ist - entstanden ist sie natürlich im Zusammenhang mit Kriegen (vermutlich im späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert).
Da fragt doch ernsthaft eine Kommillitonin (nicht sarkastisch!), was denn mit schwulen Elternpärchen sei. Dürften die denn auch für ihre Söhne solche Lieder singen oder sei das nur Frauen vorbehalten.
In dem Moment habe ich echt meinen Glauben an die Menschheit verloren. Zur Information: In der Zeit, in der solche Volkslieder entstanden sind, haben Menschen noch nicht einmal mit dem Gedanken gespielt, dass homosexuelle Menschen jemals Kinder adoptieren könnten. Die wenigen Menschen, die diese Gattung überhaupt noch beherrschen, sind ca. 80 Jahre alt. Und der erste Gedanke, der dieser jungen Dame in den Sinn kommt, ist die Gleichberechtigung homosexueller Paare? Im VOLKSLIED?
Nur um das einmal mit einer Dosis Realität zu konfrontieren: Es gibt Kriege, Hetze, Juden- und Christenverfolgung, Islamophobie, Rassismus, Mord, Totschlag, Folter, Vergewaltigung, Armut, Hunger, Analphabetismus, Chancenungleichheit, Ausnutzung und Ausbeutung, .............. in dieser Welt.
Und DAS sind die Dinge, um die sich Menschen Gedanken machen?
Und meine persönliche Sicht als Frau: Ich komme mir vor, als bräuchte ich Extrawürste, wenn zusätzlich die explizit weiblichen Formen hinzugenommen werden. Das generische Maskulinum schließt alle ein, das hat es immer schon. Erst in den letzten Jahrezehnten haben Leute angefangen, es als Symptom des Partiarchats umzudeuten - bloß weil die Formen AUCH männlich sind.
Ich würde die Sache einmal von der anderen Seite betrachten: Frauen haben explizite, eigene Formen. Männer nicht. Denn die männliche Form schließt eben alle ein, nicht nur Männer. Aber in einer Gesellschaft, in der das Wissen über Grammatik zunehmend schwindet (s. Idiotenapostroph, falsche Worttrennung, Einsatz des ß als GROßBUCHSTABE und ganz besonders häufig falsche Kommasetzung), setzen sich eben Unsicherheiten durch.
Glaub mir, ich bin die allererste, die sich für eine differenzierte Ausdrucksweise ausspricht. Ein paar beliebte Beispiele, über die ich mich aufregen kann:
- "Platzangst" für Klaustrophobie, obwohl es eigentlich Agoraphobie ist, also das genaue Gegenteil;
- "kryptische Schwangerschaft" für eine Scheinschwangerschaft, obwohl es in Wirklichkeit eine unentdeckte tatsächliche Schwangerschaft ist;
- "rechts", "rechtsradikal" und "rechtsextrem" bzw. "links", "linksradikal" und "linksextrem" als Synonyme, obwohl es jeweils drei unterschiedliche Begriffe sind;
- mein persönlicher Favorit: die Begriffe "faschistisch" und "nationalsozialistisch" als Synonyme zu verwenden, obwohl es ganz klar unterschiedliche Ideologien sind (der Faschismus war etwa nicht antisemitisch oder rassistisch, was ironischerweise trotzdem der Hauptgrund dafür ist, dass Leute heutzutage als "Faschisten" beschimpft werden)
Aber wenn ich von Unsicherheiten spreche, dann meine ich das Gefühl, nicht eingeschlossen zu werden oder eine zusätzliche Erwähnung zu brauchen. Warum? Geht es nur darum, ein Exempel zu statuieren? Geht es um einen Akt der Auflehnung gegen das Partiarchat? Geht es vielleicht sogar darum, Konflikt mit konservativen Lagern zu schüren? Es kann doch wohl kaum um Gerechtigkeit gehen, wenn doch in der ursprünglichen Form schon alle Personen eingeschlossen sind. Ich persönlich fühle mich von der Extraerwähnung beleidigt. Wenn jemand sagt "Verbraucher*innen", dann höre ich jedes Mal nur "Menschen und Frauen" oder "alle und Frauen".
Ich habe häufiger das Argument gehört, dass diese Formen unsere Sichtweise beeinflussen. Zum Beispiel bestärkt angeblich eine Form wie "Ärztekammer" das Stereotyp, dass Ärzte männlich sein müssten. Das sehe ich persönlich anders. In meiner eigenen Wahrnehmungen sind berufs- oder gruppenspezifische Geschlechtsstereotypen völlig unabhängig von den verwendeten Formen. Wenn jemand von "Maurer*innen" spricht, ändert das in meinem eigenen Kopf nichts an dem Stereotyp, dass Maurer mehrheitlich Männer sind - was eine Tatsache ist. Noch niemals hat mich dieses Stereotyp zu der Annahme geführt, dass Frauen keine Maurerinnen seien könnten oder schlechter darin sein müssten. Bloß weil es ein männerdominierter Beruf ist, habe ich bei gleicher Qualifikation nicht weniger Vertrauen in eine Maurerin als in einen Maurer.
Oder andersherum: Der Begriff "Lehrer" zum Beispiel. Etwas mehr als die Hälfte meiner Lehrer war weiblich. Niemals habe ich auch nur für eine Sekunde den Begriff "Lehrer" (im Plural) für ausschließlich männlich gehalten, niemals hat er mich zu der Annahme geführt, dass es keine oder weniger Lehrerinnen gäbe.
Der langen Rede kurzer Sinn: Ich sehe den Mehrwert von gegenderten Formen nicht. Ich kann aus persönlicher Erfahrung nur sagen, dass sie bei mir keinen Einfluss auf Stereotypen oder meine Wahrnehmung haben, und dass ich mich nicht besser oder mehr eingeschlossen fühle, sondern im Gegenteil mir ziemlich vera***t vorkomme.