Die SPD will sich ein neues Programm geben. Im alten Programm steht als Endziel immer noch der »demokratische Sozialismus«. Das neue Ziel, das Kurt-Beck-Ziel, heißt »vorsorgender Sozialstaat«. Das heißt wohl, alles soll möglichst so bleiben, wie es ist.
Mütter und Sozialdemokraten haben ein gemeinsames Problem. Sie können es beide ihren Kritikern nie recht machen. Wenn eine Frau zu Hause bei den Kindern bleibt, ist sie ein unemanzipiertes Muttchen, geht sie schnell wieder zurück in den Beruf, ist sie eine herzlose Karrieristin. Wenn ein SPDler seinen alten SPD-Idealen treu bleibt, ist er ein unbeweglicher Betonkopf, ein Ewiggestriger und Lafontaine. Wenn ein SPDler sich politisch bewegt, ist er ein Opportunist, prinzipienlos, Schröder.
Was heißt heute »links«? Nicht mal die KP Chinas scheint es noch zu wissen. Ein paar Vorschläge: Die Reichen sollen nicht immer reicher werden. Die weniger Reichen sollen auch etwas abbekommen. Der Staat soll die Armen auch in Zukunft nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Die Sozialsysteme sollen, so weit es machbar ist, erhalten bleiben. Der Kapitalismus soll nicht allmächtig werden, es muss Schutzzonen geben, in denen die Gesetze des Kapitalismus nicht gelten. Niemand soll diskriminiert werden, aus welchem Grund auch immer. Die Leute sollen leben können, wie sie möchten. Der Staat sollte nicht autoritär sein. So ungefähr redet man, wenn man in Deutschland heute links ist, genauer gesagt, im linken Mainstream, bei der SPD, bei den Grünen, bei der Mehrheit der PDS und einer Minderheit der CDU. Die Mehrheit der deutschen Wähler denkt, wie die letzte Bundestagswahl gezeigt hat, auf diese Weise links.
Man muss aber gar kein Linker sein, um solchen Gedanken zuzustimmen. Für soziale Gerechtigkeit treten auch Christen ein, der Papst zum Beispiel. Gegen einen allmächtigen Kapitalismus sind auch die Konservativen, zum Beispiel Botho Strauß. Auch Liberale sind gegen den autoritären Staat. Auf Gerechtigkeit, auf Mitgefühl oder auf Antikapitalismus hat die Linke kein Monopol. Aber was ist dann unverwechselbar und original links? Welche linke Idee kann nur von einem Linken kommen? Jetzt muss es leider ein bisschen theoretisch werden.
Etwa hundert Jahre lang war der Begriff »links« nahezu deckungsgleich mit den verschiedenen Strömungen des Marxismus. Fast alle linken Regierungen haben sich auf den Marxismus berufen. Und die Sozialdemokratie, die sich seit den fünfziger Jahren in den meisten Ländern offiziell von ihm verabschiedet hat, war auch danach noch lange Zeit von ihrer marxistischen Tradition beeinflusst. Links zu sein bedeutete, einer Lehre zu folgen. Denn der Marxismus behauptet, mehr zu sein als nur eine Meinung, über die man diskutieren kann. Er behauptet, eine Wissenschaft zu sein, eine objektive Wahrheit. Sein wichtigstes Ziel ist es immer gewesen, den Kapitalismus abzuschaffen.
Stattdessen: Gemeinschaftseigentum an den Produktionsmitteln – in welcher Form auch immer. Die Macht sollte – in welcher Form auch immer – von der Arbeiterklasse ausgeübt werden. Bei manchen Linken hieß das »Diktatur des Proletariats«, bei anderen »Rätedemokratie«, bei den Gemäßigten wurde es abgeschwächt zur »Überwindung der Macht des Kapitals«, wie sie der PDS-Ortsverband von Oberhausen in seinem jüngsten Kommunalwahlprogramm gefordert hat.
Gemeinschaftseigentum an den Produktionsmitteln und Macht der Arbeiterklasse: Diese beiden Ideen sind mehr als hundert Jahre lang der Kern linker Identität gewesen. Davon ist, zumindest in Europa, nicht viel übrig. Die Abschaffung des Kapitalismus wird ernsthaft nur noch von kleinen, bedeutungslosen Gruppen und einer Minderheit in der PDS gefordert. Der Hauptfeind des »westlichen Kapitalismus« heißt heute übrigens Islamismus (obwohl die führenden Islamisten zum Teil selber Kapitalisten sind). Die Macht der Arbeiterklasse – Arbeiterklasse, was ist das überhaupt? – wirkt als Idee heute so bizarr, dass sie nicht einmal in den regelmäßig aufflackernden Feuilletondebatten über das Linkssein eine größere Rolle spielt.