Da ich mich hobbymäßig mit Theologie befasse und auch die Bibel recht gut kenne, kann ich dir vielleicht ein wenig weiterhelfen. Nicht erschrecken, dass meine Antwort so lang ist! Ich beziehe mich immer auf konkrete Fragen von dir, die ich zitiert habe.
Warum bekommt man auf die Frage, was die zentrale Botschaft des Christentums ist, so viele verschiedene Antworten?
Aus dem selben Grund, aus dem es so viele unterschiedliche Kirchen gibt: es gibt eigentlich nicht "das Christentum". Die Bibel ist eine Bibliothek, eine Sammlung von Schriften unterschiedlicher Autoren, die nicht immer einer Meinung waren und sich häufig untereinander nicht einmal kannten. Je nachdem, auf welche Schriften man sich fokussiert, kann man ganz verschiedene Lehren hineininterpretieren.
Mal steht das Christentum für Liebe, Hoffnung, Lebensfreude, Sinn, Halt und Vergebung, mal für Unterdrückung, Härte, Grausamkeit, Drohung und Strafe, oder für Belohnung nach dem Tod durch Befolgung strenger religiöser Regeln.
Hier hast du die Spuren eines alten, innerchristlichen Konfliktes gefunden, der sich bereits in der Bibel abzeichnet: dem zwischen Judenchristen und Heidenchristen.
Das ganze zu erklären, ist nicht einfach. Um es möglichst kurz zu machen: die Judenchristen waren der Meinung, dass man auch als Christ (also als "sich-zu-Jesus-Bekennender") weiterhin die strengen Gesetze der Juden einhalten muss. Für sie standen Gesetz und Strafe im Vordergrund, sie waren sozusagen die konservative Fraktion im Urchristentum. Das lustige daran ist: Jesus selbst wäre nach aktuellem Forschungsstand den Judenchristen zuzuordnen, genau wie sein Bruder Jakobus und, zumindest anfangs, alle Apostel. Das Matthäusevangelium ist zum Beispiel eine Schrift aus judenchristlicher Feder.
Die Heidenchristen vertraten eine liberalere Lehre: Christen seien frei vom Gesetz, allein der Glaube und der daraus resultierende Lebenswandel bewirkten für sie die Sündenvergebung. Der prominenteste Vertreter dieser Gruppe war Paulus, und letztlich haben die Heidenchristen sich auch durchgesetzt. Ihre Theologie formt gewissermaßen das heutige Christentum.
Andere faseln was von der Vergebung aller Sünden aller Menschen durch Jesus' Tod am Kreuz und träumen selbst von Auferstehung nach dem Tod. Jesus sei der "Erlöser". Sorry, echt jetzt...?! Was ist das für ein schräges Narrativ? Wer glaubt denn sowas ernsthaft?!
Diese Story war gewissermaßen der einzige Weg, die Jesus-Bewegung nach der Kreuzigung zu retten.
Bedenke: Jesus wurde von seinen Anhängern als Messias angesehen. Nun war er tot, gekreuzigt zwischen zwei Verbrechern. Er hatte nichts erreicht, Israel nicht befreit, Gott nicht zum Eingreifen bewegt. Was sollte jetzt aus den Jüngern werden?
Nun trat Paulus auf den Plan, ein "bekehrter" jüdischer Schriftgelehrter, weltlich gebildet, griechisch-sprechend, Träger römischen Bürgerrechts. Er wollte den Christus-Glauben retten - aber wie? In Jerusalem lernte er die Apostel kennen und erfuhr von ihnen, dass sie (wie er selbst) den verstorbenen Jesus in Visionen gesehen hatten. Er erfuhr auch von einem ersten, simplen Glaubensbekenntnis, das er im 1. Korintherbrief in Kapitel 15 zitiert.
Da kam ihm die Idee: wenn man die schändliche Niederlage am Kreuz als Gottes Plan interpretierte, könnte man sie sozusagen "rückwirkend" in einen Sieg umwandeln. So reifte mit der Zeit Paulus' Theologie, die man seinen Schriften (insbesondere dem Römerbrief) entnehmen kann.
Wie hält man den ständigen Konflikt in der christlichen Glaubensgemeinschaft aus als bekennender Christ?
Die meisten Christen werden diese Konflikte gar nicht bewusst wahrnehmen. Sie gehören ihrer eigenen Gemeinde an, die meist ein mehr oder weniger einheitliches Weltbild und Glaubensmodell besitzt. Und wesentliche Strukturen wie die Sündenvergebung durch den Glauben triffst du in jeder einzelnen Kirche an, weil sie der Kern des heutigen Christentums sind.
Wenn jemand zu mir sagt, er sei Christ, ohne weitere Erläuterung dazu, dann habe ich keine Ahnung, was das konkret bedeuten soll im Einzelfall. Alles ist möglich.
Das stimmt natürlich - Christ ist nicht gleich Christ. Ein deutscher oder niederländischer Protestant wird sicher andere Wertevorstellungen haben als ein italienischer oder polnischer Katholik. Eine evangelikale Freikirchlerin aus Louisiana wird nochmal anders "ticken". Eigentlich verrät dir der Satz "Ich bin Christ" nicht wesentlich mehr, als dass der Betreffende "irgendwie irgendwas mit Jesus" glaubt.
Deshalb muss man auch den einzelnen Christen als Individuum kennenlernen. Unter ihnen gibt es verbohrte Egoisten, genau so wie herzliche und lebensfrohe Menschen. Eigentlich genau wie beim Rest der Menschheit.