Zitat "Anfang der Philosophie ist das Staunen"?

5 Antworten

Vom Beitragsersteller als hilfreich ausgezeichnet

Das deutsche Verb „staunen“ bedeutet „sich wundern (über)“, „verwundert sein“, „sich beeindruckt zeigen und Bewunderung ausdrücken“. Das altgriechische Verb θαυμάζειν bedeutet 1) „staunen“, „sich (ver)wundern (über)“ 2) „anstaunen“, „bewundern“ a) „hochschätzen“, „verehren“ b 1) „verwundert fragen“, „nicht begreifen können“ b 2) „zu wissen wünschen“, „neugierig sein“. Im Aristoteles-Zitat ist das Verb durch einen davor gesetzten bestimmten Artikel substantiviert: τὸ θαυμάζειν (to thaumazein).

Staunen ist ein möglicher Anfang/Ausgangspunkt des Philosophierens, weil es zu einem Hinterfragen führen und Denkprozesse auslösen kann.

Kurz gesagt steckt im Staunen, etwas für nicht selbstverständlich und geklärt zu halten, sondern für bemerkenswert, erklärungsbedürftig, einem Anschein/Eindruck nach nicht gut zusammenpassend oder seltsam. Verbunden mit Neugier ist die Fortsetzung des Staunens, Fragen zu stellen, Ursachen finden und so Phänomene in ihrem Zusammenhang erklären zu wollen.

Wer auf diese Weise nicht bloß bewundernd schaut bzw. bloß verblüfft ist, sondern danach strebt, einen Zustand der Unkenntnis zu überwinden und eine Klärung zu erreichen, wird nicht mit einer voreiligen Beantwortung, für die nichts in Frage steht, zufrieden sein. Ein Bestreben, den Dingen auf den Grund zu gehen, bewirkt ein Philosophieren.

Das Staunen, um das es geht, ist also eine bestimmte Art der Verwunderung und mit Neugier verbunden. Einerseits wird gemerkt, (noch) nicht über eine Erklärung für etwas zu verfügen oder auf etwas gestoßen zu sein, das nicht zusammenzupassen scheint, andererseits besteht Offenheit, Aufmerksamkeit und es gibt einen Wunsch und ein Streben nach Wissen/Erkenntnis/Einsicht. Was rätselhaft, geheimnisvoll und unerklärlich erscheint, wird nicht einfach so belassen. Jemand fragt sich verwundert, wie sich etwas wirklich verhält und warum es dies tut. Es gibt also zuerst einen Zustand der Unkenntnis/eines mangelnden Wissens, aber dann einen Versuch, aus ihm herauszukommen, durch Untersuchung/Erforschung/Denken zu Wissen/Erkenntnis/Einsicht zu gelangen, etwas zu verstehen und es erklären zu können.

Zum Staunen, das den Anfang bildet, gehört daher, Denkprozesse und Erkenntnisprozesse in Gang zu setzen. Es gibt bei Aristoteles Darlegungen über Wissenschaft (ἐπιστήμη [episteme]) allgemein und insbesondere über Erste Philosophie (auf die ersten Prinzipien bezogene Philosophie), die sehr stark mit Weisheit (σοφία [sophia] in Verbindung steht. In diesem Zusammenhang nennt Aristoteles das Staunen/die Verwunderung (τὸ θαυμάζειν [to thaumazein]) als Anfang des Philosophierens.

Die Äußerungen über den Anfang des Philosophierens sind folgende Teile längerer Sätze:

Aristoteles, Metaphysik A 2, 982 b: διὰ γὰρ τὸ θαυμάζειν οἱ ἄνθρωποι καὶ νῦν καὶ τὸ πρῶτον ἤρξαντο φιλοσοφεῖν (Denn durch das Staunen/die Verwunderung begannen die Menschen sowohl jetzt als auch zuerst zu philosophieren)

Aristoteles, Metaphysik A 2, 983 a: ἄρχονται μὲν γάρ, ὥσπερ εἴπομεν, ἀπὸ τοῦ θαυμάζειν πάντες εἰ οὕτως ἔχει (Denn alle beginnen, wie wir sagten, mit dem Staunen/der Verwunderung, ob es sich so verhält)

Aristoteles' Metaphysik : griechisch – deutsch. Halbband 1: Bücher I (A) - VI (E) Neubearbeitung der Übersetzung von Hermann Bonitz. Mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Horst Seidl. Griechischer Text in der Edition von Wilhelm Christ. 3., verbesserte Auflage. Hamburg : Meiner, 1989 (Philosophische Bibliothek ; Band 307), S. 13 (Aristoteles, Metaphysik A 2, 982 b):  

„Am gebietendsten unter den Wissenschaften, gebietender als die dienende, ist die, welche den Zweck erkennt, weshalb jedes zu tun ist; dieser aber ist das Gute für jedes Einzelne und im ganzen das Beste in der gesamtem Natur.

Nach allem eben Gesagten fällt also die gesuchte Benennung derselben Wissenschaft zu: Sie muß nämlich eine auf die ersten Prinzipien und Ursachen gehende, theoretische sein; denn auch das Gute und das Weswegen ist eine der Ursachen. (c) Daß sie aber keine hervorbringende (poietische) ist, beweisen die ältesten Philosophen. Denn Verwunderung war den Menschen jetzt wie vormals der Anfang des Philosophierens, indem sie sich anfangs über das nächstliegende Unerklärliche verwunderten, dann allmählich fortschritten und auch über Größeres Fragen aufwarfen, z. B. über die Erscheinungen an dem Mond und an der Sonne und den Gestirnen und über die Entstehung des Alls. Wer sich über eine Sache fragt und verwundert, der glaubt sie nicht zu kennen.“

S. 15 (Aristoteles, Metaphysik A 2, 983 a):  

„(e) Ihr Besitz jedoch muß für uns gewissermaßen in das Gegenteil der anfänglichen Forschung umschlagen. Denn es beginnen, wie gesagt, alle mit der Verwunderung darüber, ob sich etwas wirklich so verhält, wie etwa über die automatischen Kunstwerke, wenn sie die Ursache noch nicht eingesehen haben, oder über die Sonnenwenden oder die Inkommensurabilität der Diagonale (eines Rechtecks); denn verwunderlich erscheint es allen (anfänglich), sofern sie die Ursache noch nicht eingesehen haben, wenn etwas durch das kleinste Maß nicht meßbar sein soll.“


girlfrommunich 
Beitragsersteller
 20.09.2016, 21:43

Danke für die lange Antwort und sie große Mühe, das hat geholfen. (:

1

Der hervorragenden Antwort von Albrecht kann man eigentlich nichts Wesentliches hinzufügen. Dennoch möchte ich noch einige Überlegungen beisteuern.

Bevor man überhaupt staunen kann, muss man bereits über ein großes Wissen über Phänomene, Zusammenhänge, Prozesse und Entwicklungen bezüglich der den Einzelnen betreffenden Weltaspekte haben. Nur wer die Dinge bereits viele Male wahrgenommen hat, sie als Teil seiner vertrauten Welt verinnerlicht hat, kann sich im Falle einer abweichenden Ausprägung des Wahrgenommenen auch erstaunen. Also erst, wenn die vertraute Welt sich so kontrastreich darbietet, dass sie die besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht, sprechen wir vom Staunen. Da dieses Staunen nun aber naturgemäß in der Jugend weit häufiger auftreten kann, wird also der Anfang der Philosophie - nach Aristoteles - auch besonders in der Jugend in Gang zu setzen sein. 

Genau hier kann man jedoch einwenden, dass Jugendliche zwar viel fragen, viel wissen wollen, ein hohes Maß an Neugier zeigen und auch weit häufiger ins Staunen kommen als Erwachsene, dass aber damit keineswegs bereits ein Philosophieren auf den Weg gebracht sein muss. 

Für mich beginnt das Philosophieren erst dann, wenn man sich mit dezidierten Denkstrategien den komplexen, uneindeutigen Phänomenen des Lebens zuwendet. Die staunende Betrachtung einer Sonnenfinsternis ist für mich noch kein Beginn für eine philosophische Arbeit. Wenn man jedoch durch astronomisches Wissen biblische Aussagen so in Frage stellt, dass man daraus Wandlungen zu den Glaubensvorstellungen ableiten kann, dann kann man von Philosophieren sprechen. Kindliche Fragen zum Anfang des Weltalls, zur Kausalität oder zur Entstehung des Lebens, die alle gern und euphorisch als "philosophisch" apostrophiert werden, kann ich nicht dem Feld der Philosophie zurechnen.

Wenn du was über etwas staunst beginnt man auch zu hinterfragen. Wie ein Kind das neues lernt.


girlfrommunich 
Beitragsersteller
 20.09.2016, 20:32

okay, dankeschön :)

0
AkinAkbaba  20.09.2016, 20:30

es gibt dazu ein Gedankenexperiment wo ein Kind morgens mit seinen Eltern Frühstück und der Vater plötzlich anfängt zu durch den Raum zu schweben und die Mutter entweder ganz gelassen oder erschrocken reagiert such danach mal auf YouTube da findest du eine bessere Antwort

0
girlfrommunich 
Beitragsersteller
 20.09.2016, 20:28

Vielen Dank, genau die Antwort habe ich gesucht, ich konnte nur nicht die richtigen Worte finden. :)

0

Diesem Zitat kann ich gar nichts abgewinnen. Ich sehe eher, daß das Staunen mehr der Anfang von Wundergläubigkeit und Aberglauben ist.

Ich meine, daß der Anfang der Philosophie das Denken und das über den Tellerrand schauen ist und vorangig auch, andere Sachverhalte zumindest für möglich zu halten. Ohne solche Grundlagen könnte es meiner Ansicht nach keine brauchbare Philosophie geben, allenfalls dogmatische Religiosität.

bevor man sich gedanken macht braucht man einen grund dafür: unsere erde gibt es nur weil 1000000 zufälle passiert sind und uns wegen noch viel mehr. so jetzt staun mal schon, dann denk nach, dann pilosophier