Welche Beziehung haben Poststrukturalismus und Konstruktivismus zueinander?

1 Antwort

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Das ist keine einfach zu beantwortende Frage, für die es sicherlich detaillierter Fachkenntnisse bedarf.

Nach meiner Recherche würde ich den Poststrukturalismus als konstruktivistisch betrachten, wobei der Poststrukturalismus eher aus der französischen Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaft stammt, während man beim Konstruktivismus historisch eher deutsche Namen findet. Beides sind aber postmoderne Strömungen aus dem 20 Jahrhundert:

Aus einer ganz anderen kulturkritischen Richtung kommen aber auch postmoderne Diskurse aus dem Kontext von Poststrukturalismus, den Cultural Studies und insb. dem Feminismus zum Tragen, die nicht nur einflussreich für den kulturell orientierten K[onstruktivismus] waren und sind, sondern in großen Teilen selbst eine eigene Dimension sozial konstruktivistischer Ansätze begründen.

Poststrukturalismus und Konstruktivismus sind beides Philosophien, die sich mit dem Konstruktionsprozess von Wissen, Bedeutung und Realität beschäftigen. Beide gehen davon aus, dass Realität nicht objektiv und unabhängig von unserem Verständnis existiert, sondern von subjektiven Interpretationen und Bedeutungen geprägt ist.

Poststrukturalismus betont dabei die Bedeutung von Machtverhältnissen und Diskursen bei der Konstruktion von Realität und Wissen und den Einfluss von Sprache und Schrift für die Konstruktion von Bedeutungen und Wahrnehmungen:

Gesellschaftliche Strukturen, Wissensordnungen und kulturelle Formationen (Diskurse), so eine Voraussetzung der meisten Poststrukturalisten, sind grundsätzlich mit Formen der Macht verknüpft, welche deren Geltung und hierarchische Ordnung etablieren und dazu Herrschaftsverhältnisse produzieren und stabilisieren. Ein zentrales Motiv ist daher für viele Poststrukturalisten, wie derartige Herrschaftsordnungen durch subversive (unterlaufende) und interventionistische (eingreifende) Praktiken verändert oder zumindest für kreative Neupositionierungen genutzt werden können. Eine zentrale Rolle spielt dabei auch die Analyse von Massenmedien, Populärkultur und Alltagspraktiken, wie sie insbesondere durch die Disziplin der Cultural studies analysiert werden. [...] Auch im Kontext des Postkolonialismus und der Queer-Theorie sind Fragen nach der Dekonstruktion von diskursiven Machtverhältnissen von zentraler Bedeutung.

Beide Ansätze könnten sich ergänzen, indem Konstruktivismus eher psychologisch orientiert auf die persönliche Rolle bei der Konstruktion der Realität durch Wahrnehmungen und Interpretationen, und Poststrukturalismus mehr auf die Kultur, die Gesellschaft und deren Machtverhältnisse abzielt.

Mir persönlich ist der Konstruktivismus sympathischer, weil plausibler. Der Poststrukturalismus macht mir zu viele Annahmen und Voraussetzungen, die ich nicht teile, und hat selbst so etwas herrisches, machtbesessenes, kolonialisierendes, vehementes, militantes, das man bei deren Vertretern oft deutlich spürt und mir nicht sympathisch ist.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – B.Sc., M.A., M.Sc. & Doktorand

Kuhlesalami 
Beitragsersteller
 07.02.2023, 14:53

Vielen Dank für die ausführliche Antwort!
Das hat mir sehr weitergeholfen, weil man zum direkten Vergleich der beiden Strömungen im Internet irgendwie sehr wenig findet. (ich jedenfalls)
Deine Ansicht zum Poststrukturalismus ist sehr nachvollziehbar!
Allerdings finde ich es beim Poststrukt. sehr interessant, dass die jeweiligen Theorien und Denker ihr Augenmerk eher auf die Kommunikation, Geschichte & Sprache legen und sich nicht so doll auf biologische oder psychologische Forschungen oder Ideen berufen, da diesen Disziplinen ja wiederum zu untersuchende Begriffe zugrunde liegen, die diese Wissenschaften oft selbst nicht in Frage stellen können. Ob man Beispielsweise Materiehaufen unbedingt in tot/lebendig aufteilen muss, kann die Biologie ja nicht erforschen, sie kann diesen beiden Begriffen nur Dinge zuordnen (oder feststellen, dass die Dinge nicht zugeordnet werden können).
Diese Begriffe dann zu sezieren, ist das nicht das, was Poststrukturalisten machen? Oder verstehe ich da was falsch?
lg.

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petermaier11  07.02.2023, 15:35
@Kuhlesalami

Freut mich, dass es geholfen hat, und danke für das Sternchen.

Natürlich hat auch der Poststrukturalismus seine wahren Momente. Niemand liegt immer falsch. :-)

Wie gesagt kenne ich mich damit nicht im Detail aus, aber was du schreibst, passt zu der Herkunft aus der Sprachphilosophie.

Für mich geht es ganz generell in der Philosophie darum, Begriffe zu hinterfragen und z.B. hinter eigene Voraussetzungen zurückzugehen, die Naturwissenschaften selbst nicht mehr hinterfragen können. Diese Eigenschaft hat der Poststrukturalismus also von der Philosophie geerbt.

Deinem Beispiel würde ich zustimmen: die Biologie kann zwar definieren, was Leben bedeutet, aber sie kann die Definition selbst nicht abschaffen, weil sie sich damit selbst auflösen würde.

Schwierig wird es einfach immer, wenn irgendeine Theorie sich selbst verabsolutiert, also in diesem Fall sagt: ALLES ist NUR Macht, Kultur ist IMMER unterdrückend, objektive Wissenschaft ist NICHTS ANDERES ALS eine unterdrückende Struktur.

Vielleicht tue ich dem Poststrukturalismus unrecht, aber so kommt es zumindest an, wenn er in Politik umgesetzt wird. Jede Ideologie, die bereit ist, Ungerechtigkeit zu begehen, und sei es neue Ungerechtigkeit, um alte Ungerechtigkeit auszubalancieren, ist mir suspekt.

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