Warum eigentlich immer nur Dystopien?

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Das, was im Allgemeinen als schlecht oder böse bewertet wird, ist interessanter als etwas Glattes, etwas "Perfektes". Schließlich werden die dicksten Schlagzeilen mit solchen Storys gemacht, über die sich die Leser empören können.
Einerseits aus dem gleichen Grund, warum auch das Gutmenschentum so beliebt ist: Gutes und Schlechtes sind fest definiert (das macht es einfach) und man selbst grenzt sich klar von dem Bösen ab (das erhält das positive Selbstbild aufrecht).
Andererseits kann es auch faszinieren, wenn auf der Leinwand schlechtes Verhalten gezeigt wird. Der Handelnde im Film kann als Figur betrachtet werden, die die geheimen Gelüste des Zuschauers auslebt, ohne dass dieser selbst Konsequenzen befürchten muss.
In beiden Fällen - die sich auch durchaus überschneiden können, denn auch ein Gutmensch kann Abgründe haben, mein lieber Scholli - bleibt man auf sicherer Distanz, ist aber doch nah genug am Geschehen für das Kribbeln im Bauch (befriedigte Schaulust).

Konkret in Bezug auf dystopische Geschichten kann man vorbringen, dass diese auf einige Menschen einen realistischeren Eindruck machen als utopische Szenarien. Der Großteil der Menschheitsgeschichte ist ja nicht gerade von Aufrichtigkeit und Fairness geprägt - und das "Früher", wo angeblich alles besser gewesen sein soll, kann zwischen Hexenverbrennungen, königlichem Inzest und Sklaverei irgendwie auch niemand genauer lokalisieren. Dystopische Geschichten werden deshalb als interessanter eingestuft, weil sie die Wahrnehmung einiger Menschen - ob man diese nun Pessimisten oder Realisten nennt - bestätigen.
Einen bittersüßen Beigeschmack bietet sicherlich auch die Situtation des Volkes in solchen Szenarien. Es ist so weit gekommen, dass es aussichtslos scheint, sich zu wehren; große Macht hat nur eine kleine elitäre Gruppe aus manipulativen Bösewichten. Der einzelne Bürger trägt die Rolle des Opfers, ist unbeteiligt am Bösen, wirkt machtlos. Der Arme. - Und doch ist die Opferrolle auch insgeheim bequem, denn für eine Veränderung der Zustände müsste man den Komfort des Gewohnten aufgeben. Sich mit dem gebeutelten Hannes zu identifizieren ist angenehm, auch wieder bestätigend. Als Einzelner kann ich nichts bewirken, es würde doch eh nichts bringen, usw.
Im Gegensatz dazu wird durch Darstellungen utopischer Gesellschaften indirekt Kritik geübt - und zwar nicht nur an den weit entfernten Fadenziehern. Manche sehen in einer Utopie einen erstrebenswerten Idealzustand, andere nur unrealistischen Quatsch, wiederum andere sehen dadurch ihr positives Selbstbild bedroht, weil sie als unvollkommene Menschen mit moralisch überlegenen Vorbildern konfrontiert werden. "Wenige Dinge auf Erden sind lästiger als die stumme Mahnung, die von einem guten Beispiel ausgeht." (Mark Twain)

Trotzdem ist das Bedürfnis nach "dem Guten" noch da. Es äußert sich nur momentan eben nicht in dem Verlangen nach vorbildlichen Gesellschaften, sondern eher in einem Interesse an Helden (was auch nichts Neues ist). So nehme ich es wahr.


CroftLP  04.03.2020, 20:57

Ich weiß das die Frage schon 6 Jahre her ist, aber hast du eventuell Literatur an der du das belegen kannst?

Ich schreibe eine Facharbeit über die "Faszination von Utopie und Dystopie im Film" und bräuchte Literatur dazu. Alles was du sagst hört sich sehr schlüssig an, aber vllt. könnten du mir Bücher/Artikel etc. empfehlen an denen man das nachlesen kann.

Wäre sehr nett, danke : )

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Es liest sich einfach spannender, wenn Menschen in einer postapokalyptischen Welt um ihr Überleben kämpfen, als wenn sie jeden Tag glücklich in ihrem Gartenpool plantschen.


musikuss78 
Fragesteller
 24.01.2015, 15:45

Mir ist durchaus bewusst, dass eine utopische Geschichte durchaus mit Problemen in der Spannungskurve zu kämpfen haben kann. Aber das ist ja nur mal eine Herausforderung für den Autor ;)

Außerdem: Du setzt »glücklich sein« also wirklich mit »Langeweile« gleich? Das lässt ja tief blicken...

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CaptainNutzlos  24.01.2015, 18:02
@musikuss78

Wo soll ich das gesagt haben? Ich habe lediglich behauptet, dass es sich spannender liest, wenn die Leute in der Geschichte um ihr Überleben kämpfen müssen und mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert werden.

Ein Utopia, in dem alles perfekt ist, kann sich jeder selbst erdenken.

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musikuss78 
Fragesteller
 24.01.2015, 23:56
@CaptainNutzlos

Ach, und eine »perfekte« Gesellschaft kennt keine Herausforderungen? ;)

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Hallo musikuss78! :-)

Meine Meinung dazu, oder auch, wie ich es mir erkläre:

Wir leben im Zeitalter des Fakes... Durch zunehmend aggressive Werbung wird uns suggeriert, was wir (alles) brauchen. Was beinhaltet das? Äusserlichkeiten. Hatte Werbung früher auch einen informativen Ansatz, heute ist er (fast) ausschliesslich manipulativ. Bildungsauftrag von TV und Radio? Kannste nach suchen...

Geld, Google, Facebook, wunderbare neue Welt (natürlich Ironie) Nährboden des Kapitalismus, Nährboden für Mobbing, ein Hoch auf das Monopol, dafür gibt es reihenweise Beispiele. Eine neoliberale Regierung, die das nicht nur ausreichend fördert...

Ideale für die Jugend? Dieter Bohlen und die Geissens, mann, man, mann.

Also, ich träum dennoch von einer besseren Welt! Wo einfach alle eine große Spur freundlicher miteinander umgehen, das kostet doch nichts! Überhaupt finde ich kostenarme Dinge wirklich erstrebenswert. Freundschaft, Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft, Integration, um nur einiges zu nennen! Nicht Profit um jeden Preis, wohin das führt, sehen wir doch alltäglich.

Du hast recht, wo sind die Utopien? Frau/man sollte nicht nur fantasy lesen :-), sondern kreativ und fantsievoll sein und andere besser behandeln..Zuhören wär auch mal eine Option...

Freundliche Grüße schickt Dir

Jason

P.S.: Bin ich nu vom Thema abgekommen? Egal, musste mal geschrieben werden ;-)


musikuss78 
Fragesteller
 24.01.2015, 15:41

Hallo Jason, da stimme ich Dir voll und ganz zu. Natürlich geht es nicht nur um die Thematik in der Unterhaltungsbranche, sondern und vor allen Dingen um's Handeln! Nur dass die Literatur natürlich unsere Phantasie, Träume und Wünsche widerspiegeln - und was da zur Zeit abgeht, finde ich erschreckend.

Bist überhaupt nicht vom Thema abgekommen - im Gegenteil: Ich wünschte mir noch viel mehr solche reflektierten Antworten ;)

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Hallo musikuss, du hast ja schon sehr aufschlussreiche Antworten erhalten, also möchte ich nur noch eines ergänzen. Betrachtet man Dystopie und Utopie in ihrer Funktion, ist Erstere eine Warnung, Letztere eine Zielvorgabe.

Beide leben, darauf wurde ja schon hingewiesen, von ihrer Glaubwürdigkeit. Wir wissen sehr genau, wie Menschen zum 'Bösen' verführt werden, unklar hingegen ist, wie man die Gesamtheit der Menschheit dauerhaft dazu bewegen könnte, sich moralisch zu verhalten.

Deshalb muss sich eine Dystopie kaum jemals einer Plausibilitätsprüfung unterziehen, während Utopien eine unstemmbare Beweislast zu tragen haben.

Ansonsten glaube ich, dass die Fiktion oftmals ein Gegengewicht zur Realität der Gesellschaft darstellt. Sind die Menschen in ihrem Leben mit unerträglichen Grausamkeiten konfrontiert, wie im blutigen 20. Jahrhundert, sehnen sie sich nach einer 'heilen Welt', wächst man in Frieden, Sicherheit und relativem Wohlstand auf, beschäftigt man sich lieber mit dystopischen Szenarien. Wobei das sicherlich auch immer großen individuellen Unterschieden unterworfen ist und noch zahlreiche andere Faktoren eine Rolle spielen.

Ich wollte nur aufzeigen, dass Pessimismus nur eine mögliche Variante ist, die Popularität von Dystopien zu erklären. Überhaupt funktioniert eine Dystopie ja nur unter zwei Voraussetzungen:

  1. Die Dystopie kann eine weitaus schlechtere Situation beschreiben als die Lebenswelt der Rezipienten.

  2. Der Rezipient muss dazu in der Lage sein, die Dystopie als solche zu erkennen, die moralische Verwerflichkeit, die Ungerechtigkeit, die Entsetzlichkeit ihres Szenarios zu sehen, ggf. im Kontrast dazu den Vorbildscharakter der Heldenfiguren.

Das bedeutet: Autoren von Dystopien setzen als Empfänger moralische Menschen voraus, die in einer erheblich besseren Welt leben, als die Dystopie vorführt. Das zeugt ja nun nicht von allzu großem Pessimismus ;-)

Als kleine Ergänzung zu den anderen (ziemlich guten) Antworten hier mal ein paar utopisch angehauchte oder gar ganz ausgeprägte Bücher:

https://en.wikipedia.org/wiki/Category:Utopian_novels

Sehr interessant fand ich dabei die Daemon Bücher von Daniel Suarez - der erste Teil der Duologie ist eher dystopisch während der zweite diesen aufgreift, aber (ohne Bruch mit der Story) immer utopischer wird.