Text Gabrielle Wohmann - Verjährt

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In der Geschichte gleichen sich die Paare am Strand bis aufs Haar, genauso wie sich die Jahre gleichen. Allerdings streiten die jüngeren Paare noch. Die älteren - scheinbar harmonisch zusammenlebend - haben Leichen im Keller, unangenehme Erinnerungen an moralische Fehler, die sie verdrängen. Man redet nicht mehr über die Vergangenheit. Die Ich-Erzählerin ist eine Frau mittleren Alters: Sie hat noch nicht die totale Harmonie der älteren Paare erreicht, streitet aber nicht mehr so oft wie die jüngeren. Sie beneidet die älteren um die vollkommene Verdrängung und erinnert sich an den Streit in ihren jüngeren Jahren.

Vergangenheitsbewältigung

Wohmann erzählt eine Story über das Umgehen mit der eigenen Vergangenheit. Die Paare machen dabei in ihrem Leben eine Entwicklung durch: Zuerst streitet man sich über die Fehler des jeweils anderen, aber mit der Zeit werden die Konflikte übertüncht, man verschweigt den Dissens, um sich zu erholen.

1968 und die Nazi-Zeit

Im Jahr 1968 erschienen, kann man die Geschichte auch in Zusammenhang mit der Vergangenheit des Dritten Reiches lesen: 1968 fanden die ersten großen Nazi-Prozesse statt, wie das Verfahren gegen die Mörder von Auschwitz. Möglicherweise hat das Wohmann angeregt? Der Titel, "Verjährt", besteht jedenfalls aus einem juristischen Begriff. So gesehen, kritisiert Wohmann die verlogene Idylle der Nachkriegszeit. Die Familien am Strand haben allesamt eine üble Vergangenheit, die Vergangenheit von Tätern. Darin gleichen sie der Nachkriegsgesellschaft: Jeder hat etwas auf dem Kerbholz, die eigene Schuld ist groß, aber man hat das eigene Leben notdürftig zusammengeflickt, man versucht, die Vergangenheit zu vergessen. Man rettet sich in die Routine immergleicher Rituale, in eine Schein-Harmonie, die anfangs noch brüchig ist, sich dann aber verfestigt. Man gewöhnt sich daran, zu schweigen. Folgt man dieser Lesart, erscheint die Szene des idyllischen Strandurlaubs als Bild für die Gesellschaft der 50er-Jahre, die durch die Verdrängung der Nazi-Zeit gekennzeichnet ist.

Nette Leute

Die Geschichte trieft von Sarkasmus. Die Frau als Ich-Erzählerin spricht von den Nachbarn als "nette Leute", als "ruhige Leute, mit vorwiegend angenehmen Erinnerungen". Und das, obwohl sie ihre Vergangenheit kennt. Leute mit "vorwiegend" angenehmen Erinnerungen - dieser Ausdruck bereitet den Leser darauf vor, dass hier etwas nicht stimmt.

Des Pudels Kern

Da sich die Paare so stark gleichen, fällt es dem Leser genauso schwer wie der Ich-Erzählerin, sie zu unterscheiden. So ist es etwa nicht ganz klar, ob der Pudel den älteren Nachbarn gehört oder dem Ehepaar. Der Pudel steht seit Goethes Faust für den Teufel. Was ist nun hier "des Pudels Kern"? Vielleicht, dass er als Ersatz für das eigene Kind steht, das das ältere Paar getötet, das jüngere Paar verstoßen hat?

Das getötete Kind

Folgt man der Parallele zur Verdrängung der Nazi-Vergangenheit, dann könnte das getötete Kind für die deutschen Juden stehen, die - in der Vorkriegszeit ein Teil der eigenen Gesellschaft und Kultur - von den Nazis massenweise getötet wurden. Die Beschäftigung mit dieser Schuld wird von den Personen der Geschichte verweigert, wie im Nachkriegsdeutschland bis 1968 das Thema Judenvernichtung tabuisiert wurde.

Die Geschichte besteht aus der Erzählung oder den Gedanken der Frau, die manchmal auch als Dialog mit ihrem Mann erscheint. Die Frau unterbricht ihre Ausführungen manchmal durch Sätze wie: "Findest du nicht, Reinhard?"