Nationalistische Lüge und die Wahrheit - Karikatur

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Die Bildunterschrift „Ein Dolchstoß, der keine Legende ist“ enthält als Aussage einen Bezug zu einem realen Fall bzw. mehreren realen Fällen.

Die Person, die angegriffen wird, kann dabei durchaus als eine die Weimarer Republik vertretende (sie politisch tragende und als eine sie stehende) gedeutet werden. Irgendein rein zufällig, ohne irgendeinen signifikanten Zusammenhang, zum Opfer werdender Bürger ist meines Erachtens nicht gemeint.

Ein allgemeiner Zusammenhang sind von Rechtsextremen begangene politische Morde und Mordversuche.

Die Zeit der Entstehung und Veröffentlichung der Karikatur ist bei der Deutung aber ein wesentlicher Umstand.

„Nationalistische Lüge und Wahrheit“, Zeichnung von Oskar Theuer, steht in: Ulk. Wochenschrift des Berliner Tageblatts, Nr. 36, 50. Jahrgang, 9. September 1921

http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ulk1921/0141

Philipp Scheidemann, der im Aussehen eine gewisse Ähnlichkeit hat, und Walther Rathenau scheiden damit als die Karikatur veranlassende reale Fälle aus, da das Attentat bzw. die Ermordung erst 1922 geschehen sind.

Matthias Erzberger (Zentrumspartei) ist am 26. August 1921 ermordet worden. In der Nähe des Kurortes Bad Griesbach im Hochschwarzwald haben ihn, als er mit seinem Parteifreund Carl Diez einen Spaziergang unternahm (wegen eines Wetters mit Nieselregen hatten sie Regenschirme dabei), Heinrich Schulz und Heinrich Tillessen erschossen. Die Attentäter waren ehemalige Marineoffiziere, in der Marine-Brigade Ehrhardt des Korvettenkapitäns Hermann Ehrhardt, nach deren Auflösung in deren geheimer Nachfolgeorganisation »Organisation Consul« (abgekürzt: OC), in deren Auftrag sie bei der Ermordung handelten. Carl Diez, der mit seinem Regenschirm einen Angreifer zurückzuschlagen versuchte, wurde schwer verletzt (vgl. zum Mord Sabine Pappert, Matthias Erzberger : Bad Griesbach, 26. August 1921. In: Michael Sommer (Hrsg.), Politische Morde : vom Altertum bis zur Gegenwart. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005, S. 192 – 200).

In der Karikatur ist eine Naturlandschaft zu sehen und der Person entfällt ein Regenschirm aus der rechten Hand.

Matthias Erzberger stimmt zwar vom Aussehen nicht gut (er ist rundlicher und ich kenne nur Bilder, die ihn bartlos bzw. mit Oberlippenbart zeigen; Carl Diez scheint dagegen einen etwas längeren Bart getragen zu haben), aber aufgrund der zeitlichen Nähe ist ein Bezug auf die Mordtat an ihm sehr wahrscheinlich.

Matthias Erzberger war eine Symbolfigur der Weimarer Republik. Als Urheber der Friedensresolution des Deutschen Reichstags vom 19. Juli 1917, Unterzeichner des Waffenstillstand von Compiègne am 11. November 1918 (auf Wunsch und mit Zustimmung der Obersten Heeresleitung mit Paul von Hindenburg an der Spitze) und wichtiger Politiker beim Übergang von einem monarchischen Obrigkeitsstaat zu einer parlamentarischen Demokratie, Reichfinanzminister (mit einer wichtigen Reichsfinanzreform, die vereinheitliche und große Vermögen stärker heranzog) hatte er sich starke Feindschaft von rechtsradikaler Seite zugezogen. Gegen ihn war eine Haß- und Verleumdungskampagne gelaufen.

Die Karikatur nimmt auf den individuellen Fall Bezug, will aber wohl über ihn hinausgehen.

In der Legende ist das Opfer ein Soldat, der für die deutsche Armee steht. In der Realität (keine Legende) ist das Opfer ein Zivilist. An Politiker, die für die Weimarer Republik stehen, kann auf einer allgemeinen Ebene gedacht werden (in diesen Zusammenhang passen auch Walther Rathenau und Philipp Scheidemann). Sie wurden von rechtsaußen oft als „Novemberverbrecher“ bezeichnet und als sogenannte Erfüllungspolitiker angegriffen.

William A. Coupe, German political satires from the Reformation to the Second World War. Part 3: 1918 - 1945. Commentary. White Plains, NY : Kraus, 1985, S. 78:
„In the upper picture, above the caption 'A stab in the back that is a legend', a worker stabs a German front-line soldier from behind. In the lower picture, a civilian is being stabbed in similar fashion by a well-dressed ex-officer who wears a swastika badge on his left breast. The caption records that this is 'A stab in the back that is no legend'.”

„Oskar Theuer's cartoon takes up the image popularised by Hindenburg to account for the German defeat in 1918 […].”

„The immediate inspiration for the cartoon probably lies in the murder of Erzberger on August 26, 1921, by two former members of Ehrhardt's Brigade (Free Corps), whose emblem had been the nationalist swastika.”

Weder Rathenau noch Erzberger wurden mit dem Messer ermordet.

Aber der politische Mord insbesondere von Rechts war seinerzeit an der Tagesordnung. Der heute fast vergessene Mathematiker Emil Gumbel hat diese Morde statistisch untersucht und seine Erkenntnisse in dem Buch "Vier Jahre politischer Mord" veröffentlicht (und sich damit in Lebensgefahr begeben).

Er zählte in den beobachteten vier Jahren insgesamt 376 politisch motivierte Morde. 354 wurden von rechten Aktivisten begangen, lediglich 22 von Linken. Die Gerichte ahndeten jedoch die 22 Linksmorde mit zehn Hinrichtungen und zusammengenommen knapp 249 Jahren Zuchthaus sowie dreimal Lebenslänglich. Für die 354 Rechtsmorde hingegen, die hauptsächlich von ehemaligen Militärs verübt wurden, verhängten sie insgesamt lediglich 90 Jahre und zwei Monate Haft, eine einzige lebenslängliche Gefängnisstrafe und insgesamt 730 Reichsmark Geldstrafe. 326 Morde blieben sogar völlig ungesühnt. Perfider ausgedrückt: Ein durchschnittlicher Mord von links kostete das Leben, einer von rechts gerade einmal vier Monate Haft und zwei Reichsmark.

http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/24639/rechnen_gegen_den_terror.html


WIe die Karrikatur sich mit dem Untertitel selbst erklärt. Das eine ist eine Legende, nämlich, dass "der Armee" in den Rücken gefallen worden wäre. DIese Lüge wurde von führenden Vertretern der deutschen Obersten Heeresleitung initiiert. Die Heeresleitung behauptete, die Schuld an der militärischen Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg haben die demokratische Politiker. Das deutsche Heer sei im Weltkrieg „im Felde unbesiegt“ geblieben und habe erst durch oppositionelle „vaterlandslose“ Zivilisten aus der Heimat einen „Dolchstoß von hinten“ erhalten. Also eine Metapher, die der Karrikaturist als Legende (ergo Lüge) darstellen möchte. Es gab keine "Einzeltäter" auf einen einzelnen Soldaten.

Der andere zeigt einen "realen" Dolchstoss, einen Überfall von EINEM konkreten Täter an einem konkretem Opfer, das aber nicht spezifiziert wird. Sonst wäre es ja nicht im Sinne der Karrikatur.

Interessant wäre auch das Entstehungsjahr der Karikatur.

So läßt sich nur vermuten, daß die Karikatur auf die zahlreichen Morde der politischen Rechten während der Weimarer Republik anspielt, vielleicht auch auf einen konkreten Mord. An prominenten Opfern wäre M. Erzberger zu nennen - der allerdings vom Phänotyp nicht so recht paßt. Rathenau würde da besser passen.

Gruß, earnest


Endoplasma 
Beitragsersteller
 11.03.2013, 10:51

Erzberger hatte ich auch schon für mich ausgeschlossen. Rathenau wäre auch eine Alternative.

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earnest  11.03.2013, 12:14
@Endoplasma

Scheidemann auch, vgl. Pevau. Auch S. würde optisch einigermaßen passen.

Daß hier keine Klistierspritze zu erkennen ist, fällt bei einer symbolhaften Darstellung genauso wenig ins Gewicht wie ein anderer Tathergang bei beispielsweise Rathenau.

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Wenn die Person auf dem rechten Bild eine konkrete Person sein soll, wenn sich die Karikatur auf ein konkretes Ereignis beziehen soll, dann könnte es sich um Philipp Scheidemann handeln, auf den am 04 Juni 1922 ein Attentat mit Blausäure verübt wurde, das er aber überlebte.

Die rechte Presse in der Weimarer Republik spielte das Attentat herunter und behauptete u. a., dass es dazu dienen soll, "eine wüste und skrupellose Hetze gegen die Gesamtheit der rechtsstehenden Kreise in Deutschland" * loszutreten.

Die beiden Attentäter, Hustert und Oehlschläger, waren übrigens Mitglieder der Organisation Consul bzw. der Marinebrigade Ehrhard und der Eisernen Division.

*Deutsche Tageszeitung, 06.06.1922, Seite 3

http://elib.suub.uni-bremen.de/publications/dissertations/E-Diss358_albrecht.pdf ab Seite 218