Aristoteles Begriff der Poiesis

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Bei Aristoteles sind Poiesis (ποίησις) und Praxis (πϱᾶξις) ein einander entgegengestelltes Begriffspaar.

Sowohl Poiesis als auch Praxis sind Tätigkeit. Poiesis ist aber ein Herstellen/Hervorbringen, Praxis Handeln im engen Sinn.

Praxis kann bei Aristoteles einerseits ganz allgemein Leben und Bewegung bedeuten und sehr viel darunter fallen, andererseits kann Praxis (im Zusammenhang mit dem Bereich praktischer Philosophie, insbesondere der Ethik) Handeln im eigentlichen Sinn bedeuten und etwas sein, das für den Menschen spezifisch ist (im Gegensatz zu anderen Lebewesen).

Sowohl bei Poiesis als auch bei Praxis gibt es einen Zweck/ein Ziel. Der Unterschied liegt in der Zweckstruktur/Zielstruktur: Bei der Poiesis liegt der Zweck/das Ziel nicht in der Tätigkeit selbst, sondern außerhalb der Tätigkeit, im einem Ergebnis/Resultat. Insofern ist die Poiesis ein zweckgebundenes Handeln. Poiesis hat ein von ihr selbst verschiedenes Ziel. Die Tätigkeit ist Mittel, um etwas zu erreichen, das nicht die Tätigkeit selbst ist. Auf dieses andere ist das Machen/Schaffen ausgerichtet. Es kann sich beispielsweise um ein Werk bzw. ein Produkt handeln, z. B. um ein Bauwerk oder einen handwerklich hergestellten Gebrauchsgegenstand. Praxis ist dagegen selbstzweckhaft (Zweck an sich selbst). Bei der Praxis ist mit dem Vollzug der Handlung selbst der Zweck erfüllt. Bei der Praxis macht das gute Handeln selbst den Zweck aus. Das (gute) Handeln ist das angestrebte Ziel und letztlich (alle Ziele umgreifend) ist das Ziel Glück(seligkeit)/gutes Leben (εὝδαιμονία [eudaimonia]).

Poiesis ist allgemein ein Hervorbringen/Herstellen und kann auch speziell die Dichtung bezeichnen (Aristoteles, Poetik 1, 1447 a 10). Sie beruht auf Können und Wissen, auf Technik/Kunstfertigkeit (τέχνη [techne]).

Praxis ist ein Handeln, bei dem die Verwirklichung des angestrebten Gutes im Vollzug des Handelns geschieht. Praxis erhält so die Form gelungener Lebenspraxis Sie beruht auf Klugheit/Einsicht/praktischer Vernunft (φϱόνησις [phronesis]). Zur Praxis gehören nicht nur Freizeittätigkeiten, sondern auch das politische Handeln, insbesondere das Handeln der Bürger einer Gemeinschaft miteinander einschließlich der Kommunikation in Beratung und Diskussion, sofern das Handeln selbst Ziel ist.

Die Ausdehnung (Extension) des Begriffes (der Begriffsumfang) ist kein Unterscheidungsmerkmal von Poiesis und Praxis. Der Unterschied zwischen Poiesis und Praxis besteht nicht inhaltlich in den Tätigkeiten, sondern in dem Aspekt/Gesichtspunkt der Art der Ausrichtung/der Orientierung der Tätigkeit an einem Zweck/Ziel.

Bei einer Tätigkeit des Kochens ist daher zu überprüfen, was für ein Zweck/Ziel dabei angestrebt wird, um es einordnen zu können. Oft kann es einfach um das Produkt, die gekochte Nahrung gehen. Dann ist es Poiesis. Wenn es aber um eine selbstzweckhafte Tätigkeit des Kochens geht, die ihr Ziel im Vollzug der Tätigkeit völlig losgelöst von dem Produkt/Ergebnis erreicht, ist es Praxis.


Albrecht  04.03.2015, 15:12

Ralf Elm, poiêsis / Machen, Wirken. In: Aristoteles-Lexikon. Herausgegeben von Otfried Höffe. Redaktion: Rolf Geiger und Philipp Brüllmann. Stuttgart : Kröner, 2005 (Kröners Taschenausgabe ; Band 459), S. 469 – 471

S. 469 – 470: „Zentral für Ar.’ Auffassung von p. ist ihre allgemeine Bestimmung als durch Kunst (→ technê) angeleitete Hervorbringung oder Herstellung eines Werkes (→ ergon). Auf diese Weise vermag Ar. sie von dem abzugrenzen, was von Natur aus wir. Ferner kann er zweckgerichtete p. unterscheiden von selbstzwecklicher Tätigkeit (→ praxis). Überdies findet sich das Moment der Tätigkeit Bei Ar. im Begriffspaar →poēin – paschein (Tun - Leiden) zur kategorialen Erfassung der Wirklichkeit wieder.

S. 470 – 471: „Der entscheidende Unterschied ergibt sich aus der zweckorientierten Produktorientiertheit von p. und Kunst im Gegensatz zu Selbstzwecklichkeit von Praxis und Klugheit: «Jeder Hervorbringende tut dies zu einem bestimmten Zwecke, und sein Werk ist nicht Zweck an sich, sondern für etwas (→ pros ti) und von etwas. Das Handeln ist dagegen Zweck an sich» (EN VI 2, 1139b1ff.; VI 5 1140 b6f,). Wenn ein Werk (ergon) als hervorgebrachtes auf etwas anderes verweist (pros ti), wie das hergestellte Haus auf das Wohnen, dann gehört dieses Wohnen, nicht mehr zum Machtbereich der Technik. p. und Kunst produzieren deshalb Werke, die «außerhalb», «neben» (para) den hervorbringenden Tätigkeiten zum Gegenstand des Gebrauchs im umgreifenden Praxiszusammenhang werden (EN I 1, 1094a4ff,). Anderseits kann hier Ar. auch praktisches Handeln, wie z. B. politisches Tätigsein oder kriegerisches Handeln, poietische Funktion etwa der Herstellung von Frieden übernehmen. (EN X7, 1177b5f.). Bezogen auf das Leben im ganzes ist sein Gelingen (vgl. → eudaimonia) keine Frage der p. und ihrer Künste. Weil als ganzes das «Leben Praxis und nicht Herstellung (p.) ist» (Pol. I 4, 1254a79, kann eudaimonia als lebensimmanentes Ziel (→ Telos) von Praxis kein Werk außerhalb (para) des Lebensvollzugs sein, sondern wird allein um ihrer selbst willen (EN I 1, 1094a18ff.) als gutes Leben gelebt (als eu zên, euzôia, eu prattein, eupraxia, z. B. EN I 2m 1095a19; I 8, 1098b21f.).“

Ar.’ = Aristoteles  

Pol. = Politik

Ralf Elm, praxis / Praxis, Handlung. In: Aristoteles-Lexikon. Herausgegeben von Otfried Höffe. Redaktion: Rolf Geiger und Philipp Brüllmann. Stuttgart : Kröner, 2005 (Kröners Taschenausgabe ; Band 459), S. 487 – 491

Franco Volpi, Praktische Philosophie. In: Der neue Pauly (DNP) : Enzyklopädie der Antike ; Altertum. Herausgegeben von Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Band 10: Pol - Sal. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2001, Spalte 268 – 269:  

„Die Eigenart des Handelns (πϱᾶξις/práxis) muß auch vom Herstellen (ποίησις/poiēsis) abgegrenzt werden. Dies wird dadurch erschwert, daß Handeln und Herstellen beide eine Art Tun sind und daher leicht vermengt werden können. Als Unterscheidungskriterium fungiert bei Aristoteles die «Autotelie» des Handelns, das sein → Ziel (τέλος/télos) in sich selbst hat, bzw. die «Heterotelie» des Herstellens, das sein Ziel im hergestellten Werk (ἔϱγον/érgon), also außerhalb seiner selbst hat. So wird denn auch der Erfolg im Herstellen am hergestellten Werk beurteilt, während das gute Handeln nur an der Tugend (ἀϱετή/aretḗ) erkannt wird, d. h. an der Qualität und Vollkommenheit des Handlungsvollzugs, der eine → Bewegung (κίνησις/kínēsis) und in seiner vollkommenen Ausführung wiederum Ausführung einer Ἕνέϱγεια (enérgeia; «Tätigkeit») ist.“

Sabine Harwardt, poiêsis. In: Wörterbuch der antiken Philosophie. Herausgegeben von Christoph Horn und Christof Rapp. Originalausgabe. München : Beck, 2002 (Beck'sche Reihe ; 1483), S. 354 – 356

Ralf Elm, praxis, praktikê, prattein. In: Wörterbuch der antiken Philosophie. Herausgegeben von Christoph Horn und Christof Rapp. Originalausgabe. München : Beck, 2002 (Beck'sche Reihe ; 1483), S. 366 - 368

Günther Bien, Praxis, praktisch I. Antike. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 7: P – Q. Basel ; Stuttgart : Schwabe, 1989, Spalte 1277 – 1287

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Albrecht  04.03.2015, 15:09

Bücher in Bibliotheken bieten Deutungen und Hinweise auf Textstellen.

Otfried Höffe, Aristoteles. 4., überarbeitete Auflage, Originalausgabe. München : Beck, 2014 (Beck'sche Reihe ; 535 : C.-H.- Beck-Paperback), S. 198 – 199:  

„Innerhalb des vernünftigen Strebens trifft Aristoteles eine Unterscheidung, die trotz der knappen Erläuterungen Epoche machen wird (EN I 1, 1094 a3ff.; VI 4, 1140a1-5 mit Hinweis auf die exoterischen Schriften; VI 5, 1140 b6f.; vgl. auch Pol. I 4, 1254a1-89. Beim Streben im technischen Sinn, dem Herstellen oder Machen (poiêsis) kommt es nicht auf den Vollzug der Tätigkeit, sondern auf das schließliche Resultat an. Die Schulphilosophie spricht prägnant von einer actio transcendens, von einer Tätigkeit, die über sich hinaus auf ein eigenständiges Ziel weist. Beim Handeln im engeren Sinn, der praxis oder actio immanens, gibt es hingegen kein Ziel, das nicht schon im Vollzug der Tätigkeit erreicht wird. Die Beispiele sind nicht etwa stets moralischer Natur. Wer sieht, heißt es in Met. IX 6 (1048 b23f.), hat auch schon gesehen (für das Hören und Wahrnehmen überhaupt vgl. De sensu 6, 446 b 2 f.); wer überlegt, hat überlegt; wer denkt, hat schon gedacht: Hier und bei Handlungen der Tapferkeit, Besonnenheit oder Gerechtigkeit fällt das Ziel des Handelns mit dem Vollzug zusammen. Die Qualität bemißt sich daher nicht am Resultat; das gute Handeln (eupraxia) ist selbst das Ziel (EN VI 5, 1140b7).

In der Art, wie Aristoteles seine Ethik entfaltet, spricht sich nur die These aus, daß die verschiedenen Arten des Herstellens für den Menschen unabdingbar sind, das Leben als ganzes, aber nicht als Herstellen, sondern nur als Handeln zu verstehen ist. Letztlich kommt es nicht auf ein abgesondertes Werk an, sondern auf den bloßen Vollzug, das schlichte Leben (zên), und zudem auf jenes Gelingen, das eudaimonia, Glück, heißt. Auch diese Differenz, die Steigerung des schlichten zum guten Leben (eu zên), ist für den Menschen typisch.“

EN = Ἠθικὰ Nικομάχεια (Nikomachische Ethik; lateinischer Titel: Ethica Nicomachea)  

Met. = Metaphysik 

Klaus Corcilius, Handlungstheorie, Fortbewegung. In: Aristoteles-Handbuch : Leben – Werk – Wirkung. Herausgegeben von Christof Rapp und Klaus Corcilius. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2011, S. 239 – 247

S. 246 (zu einem Gedanken in der Nikomachischen Ethik): „Eine der bekanntesten Theoreme des Aristoteles ist seine Unterscheidung zwischen Herstellen (poiêsis) und nicht herstellendem, also einfachen Handeln (praxis). Es handelt sich dabei um eine Unterscheidung in der Zweckstruktur von Handlungen: Während Herstellungen solche Handlungen sind, deren Zwecke in Produkten bestehen, also in Resultaten, die außerhalb der Handlung Bestand haben, sind einfache Handlungen solche Handlungen, deren Zwecke nicht auf Resultate außerhalb der Handlung ausgerichtet sind (ebd. 1140b6f.). Aristoteles bewertet einfache Handlungen höher als Herstellungen, weil letztere ihren Zweck außer sich haben, (ebd. 1094a5f.), während er in den einfachen Handlungen enthalten ist). Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß praxeis nicht auch Resultate hervorbringen können, die die Handlung als ihr Produkt überdauern. Während ich den Gartenzaun von Frau Maier flicke, dies aber nicht tue, um den Zaun funktionsfähig zu machen, sondern um Frau Meier einen Gefallen zu tun, so handelt es sich trotz der hergestellten Funktionsfähigkeit des Gartenzauns, die auch über mein Handeln heraus Bestand hat, nicht. Oder nicht in erster Linie, um eine Herstellung, sondern um eine praxis. Für Herstellungen gilt, daß sie von der praxis «beherrscht» werden (ebd. 1139b1), was heißt, dass herstellende Handlungen immer – so wie beim Flicken von Frau Maiers Gartenzaun – im Rahmen durch einfache Handlungen vorgegebener Strukturen stattfinden. Auch ein Handwerker, der habituell Gartenzäunen flickt, tut dies letztlich nicht nur deswegen, um ein Produkt herzustellen (obwohl dies sicherlich auch der Fall ist), sondern deswegen, weil es für eine herstellende Tätigkeit einen übergeordneten Zweck gibt, den er verfolgt, indem er Gartenzäune repariert, z. B. weil er Handwerker zu sein für einen geeigneten Beruf für sich hält. Der Unterschied zwischen phronêsis und praxis ist daher keine extensionale, sondern eine aspektuelle Unterscheidung (vgl. Ebert 1976).“

ebd. = ebenda

Theodor Ebert, Praxis und Poiesis : zu einer handlungstheoretischen Unterscheidung des Aristoteles . In: Zeitschrift für philosophische Forschung 30 ( 1976), S. 12 - 30


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Hallo,

zweckgebundene Handlungen (Poiesis) sind Tätigkeiten, die du mit einem Ziel durchführst. Zum Beispiel: Haus bauen oder auch kochen.

Kennzeichnend ist also ein abschließbares Ziel. Wenn das Haus fertig ist, ist das Haus eben fertig.

Beispiele kann man im Handwerksbereich jede Menge finden.

Praxis hingegen sind Dinge mit Selbstzweck. Zum Beispiel Musik machen, weil du gerne Musik machst. Musizieren ist nie fertig. Daher nicht abschließbar.

Hoffe es war in dieser Form verständlich.