An welche Übersetzung wende ich mich am besten, wenn ich Sappho lese?

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Dichtung kann einer Übersetzung besondere Schwerigkeiten bereiten, einerseits durch das Versmaß (entweder Verzicht auf eine Nachbildung oder Zwang zum Einpassen), andererseits durch bildhafte Vorstellungen, übertragene Bedeutungen und Ähnliches, das die Aufgabe stellt, dies treffend in die Zielsprache zu vermitteln und dabei die Vielschichtigkeit möglichst zu bewahren.

Bei Saphho beruht außerdem die altgriechische Textgrundlage auf mühsamer Rekonstruktion. Fast kein Gedicht ist vollständig erhalten (ganz ist wohl nur ein Aphrodite-Hymnus [ποικιλόθρον' ἀθανάτ Ἀφρόδιτα]). Von Saphhos Gedichten ist einerseits etwas durch spätere antike Autoren überliefert, die daraus zitieren, andererseits durch Papyri. In den Handschriften der antiken Autoren sind Abschreibfehler aufgetreten. Die Papyri sind zum größten Teil in einem schlechten Zustand, nichts selten kleine Bruchstücke und Fetzen, und schwierig entzifferbar. Die philologische Arbeit beim Versuch, daraus einen Originaltext herzustellen, ist anspruchsvoll.

Bei einer Übersetzung sollte angegeben werden, welche Textausgabe zugrundeliegt und an welcher Textstelle gegebenenfalls welcher davon abweichende Text angenommen wurde. Am einfachsten ist dabei eine zweisprachige Ausgabe. Ein Nachvollziehen und Kontrollieren erfordert Kenntnisse der altgriechischen Sprache. Bei einer guten Übersetzung ist eine Annäherung an das Original möglich.

Das Beispiel in der Fragebeschreibung ist ein Ausschnitt aus Sappho, Fragment 31 (φαίνεταί μοι κῆνος ἴσος θέοισιν) in den Textausgaben von Edgar Lobel/Denys Page und Eva-Maria Voigt. Eine Nachahmung des berühmten Gedichts ist Catull (Gaius Valerius Catullus), Carmen 51 (ille mi par esse deo videtur).

Beschrieben werden im Ausschnitt Liebessymptome. Gefühle sind mit körperlichen Reaktionen verbunden. Das Gedicht ist unvollständig (erhalten sind 3 Strophen und der Anfang einer 4. Strophe; die Strophen haben 4 Verse) und an mehreren Stellen von Textverderbnissen betroffen.

Bei den drei Übersetzungen in der Fragebeschreibung beginnt und endet das, was zitiert wird, nicht jeweils an der gleichen Textstelle. Dies erklärt einen Teil der Unterschiede.

ein altgriechischer Text von Ende Vers 13 bis Anfang Vers 17 (Anfang einer 4. Strophe):

   τρόμος δὲ

παῖσαν ἄγρει, χλωροτέρα δὲ

ποίας ἔμμι, τεθνάκην δ' ὀλίγω 'πιδεύης

φαίνομ' ἔμ' αὔται·


ἀλλὰ πὰν τόλματον, ἐπεὶ


Die deutsche Übersetzung ist offenbar aus:


Sappho, Untergegangen der Mond : Lieder und Strophen. Ausgewählt aus dem Griechischen und neu übertragen von Michael Schroeder. 1. Auflage. Düsseldorf : Artemis & Winkler, 2006 (Artemis-Bibliothek ; Band 2). ISBN 3-538-06318-4

Michael Schroeder, Sappho von Lesbos : Europas erste Dichterin ; Biographie. 1. Auflage. Düsseldorf : Artemis & Winkler, 2008, S. 155:

„   das Zittern erfaßt meine Glieder,
fahler als Heu bin ich:
Verstorben - wenig fehlt daran - fühl ich mich, Agallis.

Doch läßt sich alles ertragen, denn ….“

Von den drei Übersetzungen in der Fragebeschreibung sind die englischen Übersetzungen weiter vom Wortlaut entfernt.

Die Aussagen über ein Zittern (τρόμος) und (bei der einen Übersetzung) darüber, wenig davon entfernt zu sein, tot zu sein, sind weggelassen. Eine Übersetzung ist ein Stück weit eine Interpretation. Sie sollte aber das wiedergeben, was im Text geschrieben ist, und nicht schon derart weit dazu übergehen, was dies bedeutet, wenn dies im Text nicht ausdrücklich steht. Die eine englische Übersetzung fügt eine Raserei/Verrückheit der Leidenschaft hinzu. Aus dem Text kann das Vorliegen bei dem lyrischen Ich erschlossen werden, aber im Text steht dies nicht ausdrücklich, sondern eine Beschreibung von Liebessymptomen. χλωροτέρα ist Komparativ, es geht um eine helle Färbung, also a) grüner oder b) blasser/bleicher/fahler (englisch: paler). τόλματον ist als a) „kann ertragen/ausgehalten/erduldet werden“ (oder ähnlich) oder b) als „kann gewagt werden“ (oder ähnlich) zu verstehen (wobei a) naheliegender ist).

Aber auch die deutsche Übersetzung hat Schwächen. Ganz (παῖσαν) vom Zittern betroffen zu sein, ist weggefallen. ὀλίγω ist mit „wenig“ abgebildet, aber kurz danach ist mit „Agallis“ eine Vermutung zum Text zugrundegelegt, die sich als falsch erwiesen hat. Ein Papyrusfund mit Vers 14 – 16, wozu 1965 eine Veröffentlichung erschienen ist, zeigt dies.

eine zweisprachige Ausgabe, die eine informative Einleitung enthät, einen knappen Kommentar zu den Gedichten bietet, von den deutschen Übersetzungen bei den übersetzten Gedichten besonders umfassend ist und beim zugrundegelegten Originaltext dem aktuellen Forschungsstand gut entspricht (Ende Vers 13 bis Anfang Vers 17 habe ich daraus genommen):

Sappho, Gedichte : griechisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Andreas Bagordo. Düsseldorf : Artemis & Winkler, 2009 (Sammlung Tusculum). ISBN 978-3-538-03507-2

Die Übersetzung versucht nicht das Versmaß wiederzugeben. Meistens hält sie sich dicht an Wortlaut, allerdings nicht immer. Angestrebt wird, schlichte Sprache, die in archaischer Lyrik nicht selten ist (darunter parataktischer [nebengeordneter] Satzbau, mehrfache Wiederholungen eines Wortes und nicht Variation) auch so wiederzugeben und nicht in einem Ehrgeiz nach schönem Ausdruck künstlich auszuschmücken. In Bezug auf Feinheiten ist die Wiedergabe nach meinem Eindruck nicht an jeder einzelnen Stelle optimal gelungen. Inhaltlich ist sie ziemlich zuverlässig. Meine Empfehlung ist, diese Ausgabe in einer Bibliothek zu verwenden oder auszuleihen, aber auch andere Ausgaben zum Vergleich anzuschauen, wenn es um genaue Deutung geht. 2014 hat es neue Papyrusfunde gegeben und vielleicht erscheint eine 2. durchgesehene und erweiterte Auflage. Mit einem Kauf rate ich zu einem Abwarten, bis so eine noch verbesserte Auflage erscheint.

S. 98:

„   und ein Zucken
ergreift mich ganz, und grüner als das Gras
bin ich, und vom Totsein kaum entfernt
erscheine ich mir.


Aber alles kann man durchhalten, weil ...“

einige weitere Übersetzungen des Textauschnittes:

Sappho. Griechisch und deutsch von Hans Rupé. 2. Auflage. 4. – 5. Tausend. München : Heimeran, 1945 (Sammlung Tusculum), S. 11:

„   das Zittern packt mich ganz,
noch fahler als Gras des Feldes bin ich;
wenig fehlt, und in tiefer Ohnmacht schein' ich gestorben.


Aber alles kann man ertragen, …“

Sappho, Lieder : griechisch und deutsch. Herausgegeben von Max Treu. 8. Auflage. München ; Zürich : Artemis & Winkler, 1991 (Sammlung Tusculum), S. 25:

„    mich befällt ein Zittern aller Glieder,
bleicher als dürre Gräser bin ich,
dem Gestorbensein kaum mehr ferne
schein ich mir selber.


Aber alles muß man ertragen, da
………………….“

Die griechische Literatur in Text und Darstellung. Band 1: Archaische
Periode. Herausgegeben von Joachim Latacz. Stuttgart : Reclam, 1991
(Reclams Universal-Bibliothek ; Nr. 8061), S. 423:

„   ein Zittern hält
ganz gepackt mich,
fahler noch als Dürrgras bin ich – vom Totsein wenig
nur entfernt
komm‘ ich mir selbst vor ...


Doch alles ist durchstehbar, da [...]
[...].“

Kommentierung:

Ekaterini Tzamali, Syntax und Stil bei Sappho. Dettelbach : Röll, 1996 (Münchener Studien zur Sprachwissenschaft ; Beiheft N.F. 16). ISBN 978-3-927522-23-7

S. 167:

"   Zittern
ergreift mich ganz, fahler als Dürrgras
bin ich; daß ich vom Totsein wenig entfernt sein werde,
scheint mir selbst.

Doch läßt sich alles ertragen, da auch einen Armen …“


Kommentierung:

Peter Kuhlmann, Sappho, die größeren Fragmente des 1. Buches. Dettelbach : Röll, 2003 (Jenaer indogermanistische Textbearbeitung ; Band 2). ISBN 3-89754-198-X S. 95 und S. 101:

„ein Zittern erfaßt mich
überall; blasser als trockenes Gras bin ich
und scheine mir selbst beinahe dem Sterben nahe zu sein.“

„Aber alles ist zu ertragen (?)“

C. Valerius Catullus, Carmina = Gedichte :
lateinisch-deutsch. Überserzt und herausgegeben von Niklas Holzberg.
Düsseldorf : Artemis & Winkler, 2009 (Sammlung Tusculum). S. 199:

„   ein Zittern
befällt mich ganz, bleicher als dürres Gras
bin ich, vom Totsein wenig entfernt
scheine ich mir selbst.

Aber alles muß man ertragen, da auch den Armen....“

Sappho, Und ich schlafe allein : Gedichte. Neu übersetzt und erklärt von Albert von Schirnding. München :Beck, 2013, S. 51:

„den ganzen Körper hat ein Zittern erfaßt
und fahler bin ich noch als Gras, das verdorrte,
wenig fehlt, daß ich tot bin.

Aber alles läßt sich ertragen (...)“






Von Deinen drei Übersetzungen scheint mir die erste die am wenigsten "freie" zu sein. Ein Teil der "Abweichungen" geht hier auch darauf zurück, dass die zitierten Übersetzungen unterschiedlich grosse Ausschnitte des Originals wiedergeben.

Du solltest aber keiner Übersetzung von Sappho auch nur einigermassen zutrauen, Dir einen guten Eindruck vom Original zu geben. 

Zu den bekannten Schwierigkeiten jeder Übersetzung von Lyrik (bedingt durch Versmass, Metaphorik, etc.), die immer eine "interpretative rendition" zur Folge haben (auch wenn das nicht so offen deklariert wird), kommt bei Sappho einerseits noch die kulturelle Distanz, die eine "wörtliche" Übertragung (zumindest ohne eingehenden Kommentar) für einen deutschsprachigen Leser des 21. Jh. meist unverständlich machen würde. 

Andererseits ist gerade bei altgriechischer Lyrik, v.a. bei Sappho, die Textgrundlage (also der griechische Text) schon enorm unsicher: Praktisch alle Gedichte sind Fragmente, entweder weil sie auf Papyri (i.a. in sehr schlechtem Zustand) gefunden wurden oder weil sie als Zitate bei anderen Autoren überliefert wurden (wie in diesem Fall). D. h. es fehlt oft der Anfang, meist der Schluss, immer der Zusammenhang. Dazu kommen (v.a. bei diesem Gedicht) eine Menge Fehler, die beim Abschreiben entstanden sind (gerade wegen des fehlenden Zusammenhanges und des schwierigen Verständnisses). Darum müssen Fachleute erst mühsam Rekonstruktionen des Originaltextes vornehmen, bevor man auch nur an eine Übersetzung denken kann. Jeder Übersetzer sollte darum auch (in Vorwort, Nachwort oder Kommentar) angeben, auf was für eine Ausgabe (= Rekonstruktion des Originaltextes) sich seine Übersetzung bezieht (und wann er im Detail von dieser abweicht, weil ihm an einer Stelle ein anderer Rekonstruktionsvorschlag einleuchtender scheint).

Die einzige Möglichkeit, Dich wirklich seriös mit Sappho zu beschäftigen, ist Griechisch (bzw. Sapphos Dialekt, der vom Schulgriechisch = Attisch wiederum abweicht) zu lernen und Dir mehrere wissenschaftliche Ausgaben des Originaltextes zu besorgen und dann diesen mit Hilfe von wissenschaftlichen Kommentaren zu studieren.

Wenn Dir das unrealistisch erscheint, lies einfach die Übersetzung, die Dir am besten gefällt, aber glaube bitte nicht, dass das nun "Sappho" sei. 

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Studium der Klassischen Philologie