Hallo,
ich meine, dass man reden eigentlich über alles können sollte. Und entsprechend auch über alles nachdenken darf. Es heißt ja per se beides erstmal nicht, dass daraus irgendwelche Handlungen folgen müssten. Wie wichtig mir dieser letzte Punkt ist, merke ich gerade daran, dass meine Gedanken um das Stichwort "Fantasien" kreisen; an Fantasien gibt es mMn eigentlich nichts Problematisches, wenn überhaupt, dann können Ausführungen in der realen Welt falsch sein. Es gibt sexuelle Fantasien und gewalttätige und über beides massenhaft fiktionales Filmmaterial–trotzdem besteht die Menschheit offensichtlich nicht aus dauerrattigen Perverslingen und Gewaltverbrechern, sondern stellen solche Taten die Ausnahme dar. Ich sehe eigentlch keinen Grund, warum es mit suizidalen Fantasien anders sein sollte, vor allem, wenn laut Statistik sowieso fast jeder Mensch mindestens einmal im Leben ohnehin darüber nachdenkt (was wohl so viel heißt, wie, einen Suizid als Option in Betracht zieht, obwohl man das beides eigl nicht gleichsetzen darf – sich über die menschliche Anatomie zu informieren ist ja auch nicht das selbe, wie der Beschluss, Chirurg zu werden).
Woran liegt es genau, dass "man von Selbstmordgedanken und von vollzogenen Suiziden nicht zu sprechen hat"?
Ich denke, das liegt vor allem an drei Gründen, einem kulturellen und zwei psychologischen.
Kulturell ist der Tod hier und heute entwurzelt. Einerseits eine tolle Sache, sofern es damit zusammen hängt, dass er die letzten siebzig Jahre nicht mehr mit dem Mähdrescher über das Land gefahren ist, andererseits ist er dadurch zum Absolut Anderen (eine Bezeichnung, die ursprünglich ein Theologe für Gott gefunden hatte, die ich aufgrund der Entfremdung hier aber mal eben übertragen muss, ohne damit blasphemisch werden zu wollen) und zum Letzten Grauen geworden – man begegnet ihm nicht mehr, nimmt ihn nurnoch als latente Bedrohung wahr; was man nicht kennt, wird gefürchtet und dies ist momentan so etwas wie der "Normalzustand" – ihm zu begegnen oder ihm gar entgegen zu eilen, stellt einen damit unweigerlich außerhalb der "Normalität" (was auch daran gemessen werden kann, dass ästhetische Verarbeitungen des Themas zu 10% aus Grabschmuck bestehen und zu 90% als "morbide [krankhafte] Kunst" gelten). Was nun außerhalb der "Normalität" steht, ist dazu geeignet, zu überfordern. Bekannte Aktions-, Reaktions- und Kommunikationsformen werden als nicht oder nur eingeschränkt funktionierend oder gar als in Frage gestellt empfunden, man müsste sich auf diesem unbekannten Terrain völlig neu orientieren, und da ist es einfacher, es zu meiden. Selbstschutz, wie zB bei der Episode am Bahnsteig: Allein der Gedanke daran, dass in der Nähe ein Mensch gestorben sein kann, kann traumatisch werden (wenn der Tod ein solcher Fremder ist); vermeidbar, indem man diesen Aspekt ausblendet, indem man sich auf etwas anderes konzentriert, wie etwa den eigenen Ärger über die Störung des ÖPNV.
Psychologisch haben wir vor allem das Problem, dass eine ernsthafte Erwägung des Suizids als Option nahezu ausschließlich als krankhaft gilt. Damit will ich weder kritisieren noch verharmlosen, dass Suizidalität in den Inventaren vieler psychischer Störungen auftaucht, sehr wohl kritikwürdig ist es aber, wenn daraus der falsche (Umkehr-)Schluss gezogen wird, dass eine solche Erwägung immer auf eine solche Grundstörung zurück gehen müsse. Folge dieser Annahme ist wiederum, dass solche Gedanken als anormal gelten, und man damit von vorn herein in einer gewissen Zwickmühle steckt, wenn man darüber reden wollte – äußert man Verständnis, kann es falsch aufgefasst werden, äußert man blankes Unverständnis, wird dies garantiert nicht hilfreich sein. Die traurige Pointe daran ist, dass man ernsthaften Infragestellungen des Lebens eigentlich nur dann begegnen kann, wenn man weiß, warum und inwiefern der Tod, auch der Freitod, keine gute Option ist – und dafür sollte man ihn mindestens einmal gründlich durchdacht haben.
Ein zweiter psychologischer Aspekt können intrusive obsessive thoughts sein, vllt am besten als "impulsive Fantasien" übersetzbar und da ausführlich erklärt:
http://www.drmartinseif.com/resources/intrusive-thoughts.html
Der für mich hieran wesentliche Punkt ist das Missverständnis vom latenten Willen, den Inhalt solcher Gedanken auszuführen – einen solchen gibt es nicht, trotzdem sind Betroffene und jene, die davon hören, oft verunsichert (letztlich Folge unzureichender Unterscheidung von Gedanke, Vorstellung und Handlung).
Fasse ich alles zusammen, läuft es hinaus auf Angst vor einer dunklen Bedrohung, Unsicherheit sich selbst gegenüber, mit dem Thema nicht klarzukommen und Selbstschutzmaßnahmen gegen die unterstellte Überforderung (direkte Folge der Selbstunsicherheit).
Um dennoch darüber reden zu können, wäre evtl eine offene Frage am Anfang hilfreich. "Was hältst Du eigtl von/ denkst Du eigtl über..." (im Moment durch den Versuch des Sterbehilfegesetzes sogar gar nicht mal so abwegig)